Armut und Herrschaft im Iran

Die Realität in der Stadt Shahr Babak ist aber weiterhin unverändert. Nicht nur dort, sondern im ganzen Land verlören die Menschen in ihrer Verzweiflung ihren Glauben, warnte der Abgeordnete: seine letzte öffentliche Äußerung in Sachen Armut. Doch auch diese Warnung fand keinen großen Widerhall. Seitdem hört man von ihm nichts mehr. 

Zwei Wochen nach dem kurzlebigen Hungerstreik sagte Jawad Bagheri, Freitagsprediger der Stadt Assalem, in seiner Predigt, es sei beschämend und erniedrigend, als Freitagsprediger allwöchentlich über die Preise von Eiern und Huhn sprechen zu müssen. Diese bemerkenswerte Predigt ist als Videoclip verewigt, denn coronabedingt treten die Prediger der Islamischen Republik seit Monaten nur noch virtuell auf.

Zwischen dem Städtchen Assalem im Norden und der Großstadt Shahr Babak im Süden des Iran liegt eine Entfernung von 1.200 Kilometern. Assalem ist von Wäldern und Bergen umgeben, Shahr Babak liegt am Rande der Wüste. Doch die Probleme sind hier wie dort die gleichen. In dem großen weiten Land kennt die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung offenbar nur noch dieselben wenigen Gesprächsthemen: Armut, Arbeitslosigkeit und Verteuerung.

Die Hardliner um Khamenei machen Rouhanis Regierung für das Elend verantwortlich. Doch Tatsache ist, dass diese Probleme nicht erst in den vergangenen acht Jahren entstanden sind. Außerdem werden alle wichtigen politischen, wirtschaftlichen und militärischen Entscheidungen von Khamenei selbst getroffen.

Die amtliche Statistik spricht

Wie fast alles hat auch die Armut in der Islamischen Republik eine offizielle Definition. Für eine vierköpfige Familie liegt die amtliche Armutsgrenze laut dem Amt für Statistik bei 10 Millionen Tuman, etwa 300 Euro (Stand Mitte Oktober 2020). 

Vor zwei Jahren lag die offizielle Armutsgrenze noch bei 2,73 Millionen Tuman.

Diese zwei Zahlen sprechen Bände über die horrende Inflation und die Folgen des Sanktionsregimes im Iran.

Der Mindestlohn liegt derzeit offiziell bei 1,91 Millionen Tuman, etwa 60 Euro, und nicht jeder Arbeitgeber zahlt diesen Betrag. Die durchschnittliche Miete für eine 50-Quadratmeter-Wohnung in Teheran liegt bei 4 Millionen Tuman. Niemand wundert sich, wenn Wohnungsbauminister Mohammad Eslami sagt, ein Viertel der iranischen Bevölkerung lebe in den Slums am Rand der Großstädte.

Durch die verbreitete Armut können viele Iraner*innen sich kein Fleisch mehr leisten!
Durch die verbreitete Armut können viele Iraner*innen sich kein Fleisch mehr leisten!

Das iranische Parlament hat eine Recherchekommission, die regelmäßig eigene Studien über soziale Themen veröffentlicht. Etwa 40 Prozent der 80 Millionen Iraner*innen lebe unter der offiziellen Armutsgrenze, die Mehrheit der Arbeiter in absoluter Armut, ergab die jüngste davon.

20 Millionen Familien im Iran bräuchten Lebensmittelsubventionen, sagte kürzlich Präsident Rouhani – er sei entschlossen, diese Hilfe jeder bedürftigen Familie zukommen zu lassen.

Diese erschreckenden Zahlen sind durchschnittlich und beziehen sich auf das ganze Land. Es gibt regionale Unterschiede. In der Provinz Belutschistan an der Grenze zu Pakistan regiere der Hunger, schreibt die Webseite Tasnim, die den Hardlinern nahesteht.

Es brennt heimlich

Unter der Oberfläche der iranischen Gesellschaft tobe ein Vulkan, die blutigen landesweiten Unruhen, die vor einem Jahr gleichzeitig in mehr als 100 Städten des Iran stattfanden, könnten jederzeit wieder ausbrechen, sagt der Soziologe Said Madani von der Universität Teheran. Madani gilt als regimekritisch, doch seine Einschätzung teilen auch Universitätslehrer, die den Herrschenden nahestehen.

Die Professoren stützen ihre Analysen auf handfeste Daten und Fakten, doch ganz abgesehen von der Entschlossenheit der iranischen Sicherheitskräfte, jegliche Massenproteste gewaltsam niederzuschlagen, stellt sich die Frage, ob eine landesweite Rebellion in Zeiten der Pandemie überhaupt denkbar ist.♦

© Iran Journal

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