Armut und Herrschaft im Iran

In diese Elendsviertel haben sich manche begeben und teils teuer dafür bezahlt. Einige von ihnen, wie die Vorstandsmitglieder der Imam-Ali-Gesellschaft, sitzen deshalb seit zwei Jahren im Gefängnis: weil sie den Slumbewohnern geholfen und sich um Kinder und Jugendliche gekümmert haben, die ihr Dasein auf den Straßen der iranischen Großstädte fristen. Laut Presseberichten gibt es im ganzen Land Millionen Kinderarbeiter, wie sie im Volksmund heißen.

Die Imam-Ali-Gesellschaft war ein karitativer Verein, bekannt und angesehen im ganzen Land, mit über zehntausend Freiwilligen, hauptsächlich Studierende. Sie hatten ihre Gemeinschaft nach Ali, dem ersten Imam der Schiiten und dem Schwiegersohn des Propheten, benannt, weil er für die Schiiten das Sinnbild von Anstand und Makellosigkeit ist. Sprichwörtlich ist, wie Ali allabendlich anonym und mit einem Sack voller Lebensmittel die Behausungen der Armen aufsuchte. 

Seit dem 20. Juli 2020 ist das Büro der Imam-Ali-Gesellschaft in Teheran versiegelt. Vier der Vereinsgründer sitzen seit zwei Jahren ohne Anklage im Teheraner Evin-Gefängnis und warten auf ihren Prozess.

Organisiertes Handeln gegen Armut gefährde die nationale Sicherheit, laut darüber zu reden oder zu schreiben sei Schwarzmalerei, die nur den Feinden helfe, so die Logik der Herrschenden.

Der anonyme Chronist

Will ein Chronist als Zeitzeuge das fortdauernde Verschwinden der iranischen Mittelschicht dokumentieren und darüber berichten, muss er deshalb sein Inkognito wahren – wie etwa jener Autor von Sozialreportagen, der sich Reza Shokri nennt, ein persischer Allerweltsname wie Heinz Müller im Deutschen. Umfassend ist die Bandbreite seiner Reportagen, bildhaft und lebensnah seine Beschreibungen. Sie erscheinen regelmäßig auf der renommierten Webseite radiozamaneh.

Wie eine Kamera registriert Shokri, wie Menschen in den Slums vegetieren, warum sie dort gelandet sind und welche Zukunft sie für sich selbst und den Iran sehen. Mit Erschütterung erfährt man in seinen Reportagen, wie viele Hochschulabsolventen samt ihrer Familien im Elend gelandet sind: weil sie arbeitslos sind oder einfach ihre Mitte nicht bezahlen konnten. Das sind bleibende Dokumente einer Zeitenwende.

 Bei den iranischen Banken betragen die Zinssätze im Durchschnitt 18 Prozent
Bei den iranischen Banken betragen die Zinssätze im Durchschnitt 18 Prozent

Seine letzte Reportage stammt vom Dezember 2020 und trägt den Titel: „Die wollen uns umbringen“. „Die“, das sind wie überall die Mächtigen. Shokri berichtet über das Auf und Ab des Dollarkurses auf dem Schwarzmarkt und beschreibt plastisch und nachvollziehbar, wie die US-Währung den Alltag der Iraner*innen bestimmt und wie die Preise elementarer Güter wie Brot, Fleisch und Eier an den Dollar gekoppelt sind. Der offizielle Wechselkurs des US-Dollar liegt bei 1 zu 4.200 Toman, auf dem Schwarzmarkt bei 1 zu 24.000 (Stand Anfang Dezember 2020). Dieser Schwarzmarktkurs spiegelt die Realität der Lebensmittelpreise im Iran wider.

Doch manchmal ist es gar nicht nötig, anonyme Reportagen zu lesen, um zu begreifen, was im Iran los ist. Auch aus manchem offiziellen Mund dringt ab und zu die Wahrheit heraus.

Das Elend und der Volksvertreter

Mostafa Reza Hosseini Ghotb Abadi weiß genau, wann die Verzweiflung des Volkes begann und wie sie um sich griff. Er muss es wissen: Der 50-Jährige, der einen Ingenieurstitel trägt, ist Abgeordneter und leitet die Kommission für Beschwerden und Klagen des Volkes im iranischen Parlament. Eine bessere Adresse für die Erkundung der Volksmeinung gebe es nicht: Er sei das Sprachrohr der Armen und Entrechteten, berichte über die Arbeit seiner Kommission und spreche über eigene Erlebnisse und Erfahrungen, stellt die Webseite Fars ihn vor. Für diesen Abgeordneten trägt – wie für fast alle seine Kollegen im Parlament – nicht Donald Trump, sondern Hassan Rouhani die Hauptverantwortung für die iranische Misere.

Ghotb Abadi wird bei der Beschreibung der Lage grundsätzlich und geht weit zurück in die Geschichte, er weiß, wie es alles anfing: „Das Volk meint zurecht, die Fahrt ins Jammertal begann mit der Zinswirtschaft: als die Banken das Gottesgebot, den Koran und die Religionsvorschriften missachteten und mit horrenden Zinsen die Ersparnisse des Volkes einheimsten, um diese dann mit noch höheren Zinsen zu verleihen. So trieben die Wucherer das Volk ins Elend, so begann unser Weg in Verderbnis und Ausweglosigkeit.“ 

Für den Volksvertreter war das Maß am 15. November 2020 voll, an diesem Tag trat er in seinem Parlamentsbüro in den Hungerstreik. Damit wolle er gegen die Regierungspolitik demonstrieren und der Öffentlichkeit kundtun, wie „himmelschreiend“ Armut und Ungerechtigkeit in seiner Heimatstadt Shahr Babak seien, ließ er verlauten. In seinem Wahlkreis in der Provinz Kerman gebe es nicht genug zu essen, dort herrsche nackte Not, die Menschen hungerten, es fehle sogar an Trinkwasser, deshalb wolle er bei seinem Hungerstreik auch nicht trinken.

Medienwirksam ließ sich der Parlamentarier am ersten Tag seines Fastens von Journalisten ablichten, einige Tage lang las man auf Webseiten, die den Hardlinern nahestehen, hier und da über seine Aktion. Doch das Medienecho verhallte so schnell, wie es entstanden war. In der coronaverseuchten Öffentlichkeit ist auch im Iran fast alles kurzlebig.

Die Scham des Freitagspredigers

Fortsetzung auf Seite 3