Republik, Diktatur oder Gottesstaat? Wahlen und Widersprüche im Iran

Den Vater sieht man auf dem berühmten Foto der Heimkehr des Ayatollah Ruhollah Khomeinis am 1. Februar 1979 hinter dem Revolutionsführer. Sein „Augenlicht“ sei erloschen, sagte Khomeini, als der alte Mottahari wenige Monate nach dieser Aufnahme bei einem Attentat getötet wurde. Er hatte schon während der Schah-Zeit Dutzende Bücher über den politischen Islam verfasst und wird heute im Iran als der Philosoph schlechthin verehrt. Mottahari galt als die rechte Hand von Republikgründer Khomeini. Heute sind Schulen, Universitäten und Straßen nach ihm benannt, Forschungsinstitute analysieren seine Werke und Ideen, in seinem Namen werden Wissenschaftspreise verliehen.

Geerbte Immunität nutzt nicht immer

Ist man eines solchen Vaters Sohn, ist man gegen einige Widrigkeiten des politischen Lebens immun. Der Sohn hat aber noch mehr Garantien: Sein Schwiegervater ist ein einflussreicher Großayatollah, seine Schwester mit Parlamentspräsident Ali Laridschani verheiratet. Mehr politische und familiäre Verflechtungen mit der Macht kann man nicht aufbieten, um eine gewisse Meinungsfreiheit zu genießen. Trotzdem gelingt Mottahari das nicht immer. Außerhalb Teherans kann er inzwischen kaum noch auftreten, seine Veranstaltungen in der Provinz enden stets mit Tumulten, Verletzten, Verhaftungen. Und selbst in der Hauptstadt Teheran ist immer ein massives Polizeiaufgebot nötig, wenn der Vizepräsident des Parlaments eine Rede halten oder mit Studenten diskutieren will. Seine Klagen zeigen keine Wirkung, er bleibt aber beharrlich.

Freiheitsliebender Kritiker …

Mottahari wird von jedem für seine offenen Worte bewundert. Er erlaubt sich – wenn auch sehr vorsichtig – sogar, Khamenei zu kritisieren. Manchmal redet er wie ein unermüdlicher Verteidiger der Redefreiheit, fordert etwa, den Hausarrest von Moussavi und Karrubi aufzuheben, oder wirft Präsident Rouhani vor, die Geheimdienste nicht zu zügeln. Ein aktuelles Beispiel: Am vergangenen Donnerstag protestierte Mottahari heftig und erbost, weil Revolutionsgarden tags zuvor Dutzende User des Nachrichtenservices Telegram Messenger verhaftet hatten. Doch das ist nur das eine, tolerante Gesicht des Parlamentsvize.

… und reaktionärer Moslem

Denn Mottahari ist auch ein wahrer Sohn seines Vaters, also ein streng gläubiger Muslim, der zwar tolerant sein will, doch dabei oft an seine eigene Grenze stößt. So oft wie Mottahari für Rede- und Versammlungsfreiheit eintritt, mokiert er sich im Parlament auch regelmäßig darüber, dass junge Frauen zunehmend islamische Kleidervorschriften missachten würden. Bei einer Parlamentssitzung führte er ein Video vor, in dem auf einer langen Straße ausschließlich junge Frauen zu sehen waren, die mehr oder weniger aufregende Leggings trugen. Nach der Vorführung fragte er die Abgeordneten, ob sie wüssten, wo diese Straße liege, und gab die Antwort selbst: in der Hauptstadt der Islamischen Republik. Was mache der Kultusminister des Landes, warum schweige der Staatspräsident zu einer solchen Schande, klagte Mottahari.

Besonders junge Frauen hatten Rouhani unterstützt, in der Hoffnung, die rechtliche Lage der Frauen würde sich verbessern - Foto: Freude auf einer Teheraner Straße nach Rouhanis Sieg
Besonders junge Frauen hatten Rouhani unterstützt, in der Hoffnung, die rechtliche Lage der Frauen würde sich verbessern – Foto: Freude auf einer Teheraner Straße nach Rouhanis Sieg

Widersprüchlich, aber glaubwürdig

Mottahari ist die Verfassung der Islamischen Republik in Person – mit all ihren Widersprüchen. Und er versucht glaubwürdig, diese Verfassung zu vertreten oder besser gesagt zu retten, denn viel Macht hat er nicht. An manchen Tagen, wenn sein Schwager, der Parlamentspräsident, nicht da ist, darf er Parlamentssitzungen leiten. Seine Klagen darüber, dass er außerhalb des Parlaments kaum ungestört eine öffentliche Rede halten kann, werden kaum beachtet. Diese richtet er übrigens an eine Judikative, deren Chef Sadek Laridschani ist, der Bruder des Parlamentspräsidenten.

Rouhani bester Repräsentant der Widersprüche?

Wie sich Parlamentsvize und Staatspräsident gleichen: Mottahari und Rouhani haben zwar Ämter, aber keine wirkliche Macht. Beide sind Brüder im Geiste. Sie glauben, die islamische Republik bestens repräsentieren zu können und allein deren Verfassung verteidigen oder retten können – allen Geburtsfehlern und Widersprüchen dieser Verfassung zum Trotz. Sie haben recht, weil sie Inkarnationen dieser Verfassung sind, sie stehen für die Widersprüche dieses Staates. Suchte man einen authentischen, originellen Unterstützer Hassan Rouhanis im kommenden Wahlkampf, wäre Ali Mottahari der richtige Mann.

Die Reformer werden Rouhani mangels Alternativen unterstützen, doch diese Unterstützung ist taktisch und mit der Hoffnung auf bessere Zeiten verbunden. Der innere Kern der Macht, also jene, die in Khameneis Haus ein- und ausgehen, haben andere Sorgen: Sie wollen eine sichere Wahl für in- und ausländische TV-Kameras, eine vorzeigbare Wahlbeteiligung und Kandidaten, die sich im genau definierten Rahmen bewegen. Der Rest ist zweitrangig.

  ALI SADRZADEH

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