„Ein Mörder als Hoffnungsträger“
Als Parastou Forouhar im Januar die Nachricht über wiederholte Einbrüche in ihr Elternhaus erreichte, reiste die in Deutschland lebende Künstlerin in den Iran, um sich vor Ort mit der Angelegenheit zu befassen. Das Haus ihrer von den Geheimdienstlern ermordeten Eltern, des Politikerehepaars Daryoush Forouhar und Parvaneh Eskandari, war völlig verwüstet worden. Der Bericht über Parastou Forouhars Aufenthalt in Teheran, der fast zwei Monate dauerte.
Ein mächtiges Schloss hing an dem Eingangstor, das meine Tanten erst kürzlich angebracht hatten, um weitere Einbrüche in das Haus dahinter zu verhindern. Das Tor war beschädigt. Die abgeplatzte Farbe zeigte Spuren der Hammerschläge der Einbrecher. Das Bild ähnelte jenen verlassenen Häusern, die zum Stadtbild Teherans gehören: Häuser, die langsam zu Ruinen werden, bis sie endlich vollkommen verschwinden.
„Als wir nach dem Einbruch herkamen, lagen viele Gegenstände im Garten herum“, berichtete meine Tante. „Kleidung, Taschen, ein Radio und der Teppich mit den Blutflecken deiner Mutter, den sie in die Ecke des Blumenbeets geschmissen hatten.“ Auch im Haus lag vieles auf dem Boden: Mobiliar, persönliche Gegenstände meiner Eltern und politische Schriftstücke, die an die Geschichte des Ortes erinnerten. Die Sprechanlage, einige Lampen und das Telefon waren entfernt. Hier und da schauten nackte Kabel aus den Wänden. Das Haus war gezeichnet von Plünderung. Die durch die geraubten Dinge hinterlassene Leere sprang ins Auge. Ein alter Parteigenosse meiner Eltern erzählte mir, während er vorsichtig Papiere vom Boden aufsammelte, eine Anekdote. Als er in den 70er Jahren Gholamhossein Saedi, einen begnadeten Schriftsteller und tapferen Oppositionellen, im Krankenhaus besuchte, der von einer „unbekannten“ Schlägerbande überfallen und zusammengeschlagen worden war, sagte Saedi: „Manchmal muss man die Härte der Faust spüren, um zu begreifen wo man lebt.“ Dieser Satz begleitete mich durch meinen Aufenthalt in Teheran.
In den ersten Tagen bin ich nur zum Aufräumen in mein Elternhaus gegangen. Ich konnte es dort nicht lange aushalten. Das Wiederaufrichten eines überfallenen Ortes geschieht langsam, es erfordert Geduld und Zuneigung.
Als ich das Haus am Donnerstagnachmittag wie gewohnt für Besucher öffnete, brachen aufgeregte Diskussionen aus. Nicht viele kamen – ich weiß nicht, ob das den auferlegten Besuchsverboten zuzuschreiben war oder ob die eigenen, geänderten Prioritäten diesen Ort nicht mehr einschließen. „So wie die Gegenstände haben sie auch die Menschen von diesem Ort entwendet“, sagte ein Freund. Einige Gäste, sichtlich betroffen, meinten, dass ich das Haus nach dem ersten Einbruch hätte leer räumen, die Erinnerungsstücke wegbringen und verstecken sollen: „Setz das Haus nicht diesem Prozess der Plünderung aus.“ „Stell Dich nicht so verletzbar hin.“ Andere meinten, ich solle das Haus vermieten, bis bessere Zeiten kämen. Ich frage mich: Kann man eine Ermordungsstätte vermieten? Soll man seine Erinnerung löschen, um einen Ort zu bewahren? Würde damit das Beharren auf Aufklärung jener politischen Verbrechen, die dort geschahen, nicht an Realität verlieren? Und: Wie kann man überhaupt auf bessere Zeiten hoffen, wenn man die Hoffnung in der jetzigen Zeit aufgibt? „Wenn ich den Stuhl, auf dem mein Vater saß, als er getötet wurde, zwischen anderen Stühlen im Keller versteckte: Würde ich nicht die Geschichte dieses Gegenstands verstummen und das Geschehene gleichgültig werden lassen? Was ist der Unterschied zwischen einer Plünderung und dem Verstecken, wenn beides das Entschwinden der Erinnerung zur Folge hat?“, fragte ich meine Gäste. Manche antworteten, die Plünderung sei die Reaktion auf meine langjährige Hartnäckigkeit. Und ich frage mich, ob mein Nachgeben nicht das Vergessen derjenigen zur Folge hätte, die nicht nachgegeben haben?
Auf dem Polizeirevier
Es war ein Samstag, als ich zum ersten Mal das Polizeirevier auf dem Baharestan-Platz aufsuchte, um der Klage, die meine Tante eingereicht hatte, nachzugehen. Das Gebäude war renoviert, die Fassade hell gestrichen, der Boden des Eingangshofes neu verlegt. Der Baharestan-Platz gehört zu jenen alten Orten, die in Hochgeschwindigkeit verschönert werden. Hier und da in Teheran, wo die alten Gebäude noch nicht abgerissen sind, begegnet man Gerüsten, auf denen Bauarbeiter, oft Afghanen, stehen, alte Klinker polieren und eine gelbliche Paste in die Mauerwerkritzen schmieren. Eine Politurkampagne, um in dem seltsamen Puzzlebild Teherans den geschichtsträchtigen Stadtteilen neuen Glanz zu verleihen.
Im Polizeigebäude herrschte aber die übliche Atmosphäre: ein mit Wut und Jammern aufgeladenes Gerangel. Die Klage meiner Tante und der Bericht des Polizisten, der nach dem Einbruch die Spuren aufgenommen hatte, waren verschwunden. Im Archiv existierte nur eine Aktennummer, die den Einbruch belegte. Ich musste erneut Klage einreichen, die Justizbehörde aufsuchen, in verschiedenen Ämtern vorstellig werden, immer wieder das Geschehene vortragen und Fragen beantworten, um dann die Akte beim zuständigen Kriminalamt einreichen zu können. Die Zustände dort spiegelten die brillante Anekdote meines altes Freundes wieder. Man begegnet vielen Inhaftierten, die zum Verhör gebracht werden. Diese Männer tragen pyjamaähnliche Gefängnisuniformen und Ketten an Händen und Füßen. Manche sind sogar aneinander gekettet. Wenn sie die Gänge passieren, rasseln die Ketten. Warten sie vor einem Büro, dürfen sie sich nicht setzen. Betreten sie das Büro der Kriminalpolizisten, einen großen Saal, in dem viele Schreibtische nebeneinander stehen, müssen die geketteten Männer vor diesen auf dem Boden hocken. Für andere Besucher stehen schäbige Stühle bereit. Ich kann dafür kein anderes Wort finden als Apartheid.
Nachdem ich das Amt verlassen hatte, fuhr ich zu einem Reisebüro, um meinen Rückflug zu verschieben. Es regnete und die Teheraner Straßen waren wenig befahren. Das Büro war in einer zentralen Straße, in einem der neu gebauten Wolkenkratzer, die seit einigen Jahren mit rasanter Geschwindigkeit das Stadtbild Teherans erobern. Als das prächtige Glasportal sich öffnete, stand ich in einer marmornen Eingangshalle, wo mich ein Portier in schicker Uniform begrüßte und zum Aufzug führte, während er mich mit Aufmerksamkeiten überschüttete. Der Aufzug war verspiegelt und lichtdurchflutet. Sanfte Musik begleitete die Auffahrt, jede Etage wurde von einer verführerischen Stimme angekündigt. Im Reisebüro saßen freundliche junge Frauen, perfekt geschminkt, hinter Hightechgeräten. Jede trug ein seidenes Tuch auf dem Kopf, passend zur eleganten Uniform. Die Sachbearbeiterin war kompetent und meine Angelegenheit schnell erledigt. Ich war verwirrt. Saedis Satz hallte in meinem Kopf, auch wenn die Faust dieses Mal viel Schmuck trug. Ich finde keine Worte, um den krassen Unterschied der Lebenswelten, die in Teheran nebeneinander existieren, zu beschreiben – es ist, als ob die Sprache die Realität in diesem Fall eher eindämmen würde, als sie darzustellen.
Ein erschreckendes Wahlplakat
In dieser Zeit kochte der Trubel vor den Wahlen hoch. Ich saß in einem Taxi, als der Anblick eines riesigen Wahlplakates mich so fesselte, dass ich aussteigen musste. Das Plakat zeigte einen Ex-Geheimdienstminister, der in der Öffentlichkeit als Befehlsgeber zahlreicher Menschenrechtsverletzungen und politischer Morde allgemein bekannt ist. Er war auf einem farbenfrohen Hintergrund abgebildet, lächelte freundlich und streckte seine rechte Hand einladend dem Zuschauer entgegen. Sein Wahlslogan lautete: „Ein kompetentes Parlament, Einigkeit und Solidarität“. Ich schaute fassungslos auf das Plakat, das über den Köpfen der Passanten schwebte, als ein junger Mann mir voller Enthusiasmus einen Zettel in die Hand drückte. Darauf stand: „Koalition der Hoffnung, 30+16“. Es war Wahlwerbung der Reformisten. Auch darauf stand der Name eines Ex-Geheimdienstministers: Dori Nadjafabadi, Befehlsgeber der politischen Morde vom Herbst 98 – Befehlsgeber auch der Ermordung meiner Eltern. Trotz handfester Beweise für seine Täterschaft ist er nie zur Rechenschaft gezogen worden. Nun war er der Hoffnungsträger der „Reformisten“.
Der junge Mann, der meinen Söhnen ähnelte, sprach von seiner Hoffnung auf Reformen, von unserem Wahlrecht und der nationalen Pflicht, davon Gebrauch zu machen. Ich stand mit gesenktem Kopf, um meine Tränen vor ihm zu verbergen, und fragte mich, was für ein Umgang möglich wäre zwischen denen, die den Ermordeten nahe stehen, und jenen, die aus Hoffnung deren Mörder wählen? Es ist das Wort „Hoffnung“, das uns spaltet und entfremdet. Hätte man an seine Stelle Angst oder Ratlosigkeit gesetzt, wäre ein Umgang möglich gewesen. Hätten die „Reformisten“, die die Wahlkampagne aufstellten, Worte wie „Hoffnung“, „Recht“ und „Reform“ nicht so maßlos ad absurdum geführt, dann gäbe es eine Realität, um die man streiten könnte. Dann wäre ein Gespräch möglich.
Nun sind die Wahlen vorbei. Und nicht nur der junge Mann: Viele meiner Freunde und Bekannten, viele Andersdenkende, die den Reformisten nahe stehen, haben die Liste der „30+16“ gewählt. Und ich frage mich, ob ihre Stimmen einem Freispruch für vergangene Verbrechen gleichkommt. Der Wahltag fiel auf den ersten Freitag des Monats. An diesem Tag bin ich zu dem verbotenen Khavaran-Friedhof am Rand der Stadt Teheran gefahren. Ich wollte mich der unabwendbaren Realität hingeben, die dieser Ort innehat. Auf den ersten Blick Brachland, verbirgt Khavaran die Massengräber der hingerichteten DissidentInnen. Ein Ort mit Symbolcharakter für die systematische Vernichtung der iranischen Opposition in den 80er Jahren. Ein Ort, an dem kein Grabstein erlaubt ist und keine Pflanze wachsen darf. Doch jeden ersten Freitag im Monat wird der Friedhof von Angehörigen der Hingerichteten besucht, die seit den 80ern Widerstand leisten und das angeordnete Schweigen brechen. Ich saß am Rand des Friedhofs und schaute Frauen zu, die Blumen in Dornbüsche steckten und hier und da liebevolle Markierungen einsetzen. Diese kleinen, unauffälligen Arrangements aus Ästen, Steinen und Tannenzapfen erinnern mich immer an Vogelnester.
Ein unsicherer Polizeioffizier
Fotsetzung auf Seite 2