Iranische Kontroverse über „Obamas Krieg“
Im Westen besteht über die Rolle des Iran im Krieg gegen den „Islamischen Staat“ (IS) keine Klarheit. In der Islamischen Republik selbst ist der Streit über die Zukunft der Region grundsätzlich und tiefgreifend. Zum ersten Mal wird auch die territoriale Einheit des Irak in Frage gestellt.
Halbleer oder halbvoll, Teil der Lösung oder Teil des Problems, oder beides zugleich – alles ist richtig und falsch, nur die Perspektive entscheidet: Wo steht der Iran in „Obamas Krieg“ gegen den IS und zu den Umwälzungen in der Region, die für einige Länder zur Existenzfrage geworden sind? Dieser Umbruch nimmt langsam auch für die Islamische Republik historische Dimensionen an. Über keines der beteiligten Länder hört und liest man so viel Widersprüchliches wie über den Iran. Mal ist Teheran diesseits, mal jenseits der Front. Es kommt darauf an, wer wann was wo sagt oder eben nicht sagt – Doppelzüngigkeit ist immer inbegriffen.
Am Vorabend des 11. September 2014 kam der Iran in der Grundsatzrede des US-amerikanischen Präsidenten Barack Obama gegen den IS kein einziges Mal vor. Nicht einmal negativ wie im Falle Syriens. Dieses Schweigen ist keineswegs das Ergebnis einer Ahnungslosigkeit darüber, was die Machthaber in Teheran sagen oder tun. In seiner Rede ging es Obama offenbar um Grundsätzliches, um Strategie und willige Koalitionäre. Und dabei hat der Iran bekanntlich keinen Platz, jedenfalls momentan nicht. Dass er aber den Iran für seinen auf Jahre hin geplanten „Krieg“ dringend braucht, hatte Obama drei Tage vorher sehr offen eingestanden. Die sunnitischen Länder der Region müssten begreifen, dass ihre Feinde die IS-Terroristen seien und nicht der Iran, sagte er da in einem Interview mit dem Fernsehsender NBC. Konkret nannte Obama Saudi Arabien und Jordanien. Ist das die Meinung aller Entscheider der amerikanischen Politik? Mit Sicherheit nicht.
Einen Tag nach Obamas Fernsehauftritt warnte General Hugh Shelto, amerikanischer Kommandeur im ersten Golfkrieg, in einem Zeitungsinterview davor, „den Mullahs zu trauen“. Henry Kissinger, für viele Amerikaner immer noch die personifizierte Außenpolitik schlechthin, ging am selben Tag noch einen Schritt weiter und erklärte den Iran für noch gefährlicher als den IS. Die Liste wäre lang, wollte man konträre Äußerungen von Politikern, Militärs und Experten in Washington aufzählen. Wer von ihnen und in welcher Phase des „Krieges“ sich durchsetzen wird, ist ungewiss. Daher wird man auch nicht heute, sondern erst in Jahren erfahren, was die USA im Irak eigentlich wollen, welche Politik sie letztendlich betrieben haben und mit welchem Ergebnis die Welt am Ende leben muss.
Zwischen Zweifel und Optimismus
Einem ähnlichen Chaos, allerdings einem existenziellen Widerspruch begegnen wir bei denjenigen, die heute im Iran schicksalsträchtige Entscheidungen treffen. Und so wie in den USA wird man erst Jahre später erfahren, wer in Teheran am richtigen Hebel saß, welche Entscheidungen er traf und was er bewirkte. Selbst das Sortieren der verschiedenen Meinungen und Motive fällt heute schwer.
Etwa zwei Stunden nach Obamas Rede erläuterte der iranische Präsident Hassan Rohani, der zu der Zeit in Tadschikistan weilte, wie er sich den globalen Krieg gegen IS vorstellt. Als ob er auch im Namen seiner Gastgeber spreche, startete er – wie bei iranischen Politikern oft üblich – einen Ausflug in die Geschichte, in die Kultur, dann kam er zur Literatur und sagte, die persische Poesie, die gemeinsame Sprache der Iraner und Tadschiken, sei fern jeglicher Gewalt, der Iran sei genau wie Tadschikistan bereit, gemeinsam mit der ganzen Welt den Kampf gegen die Barbaren der IS aufzunehmen, deshalb müsse man anstelle einer Koalition der Willigen eine Koalition der Betroffenen schmieden. So äußerte der Geistlich die vorsichtige Bereitschaft seines Landes, einer Koalition anzugehören und an der Seite der USA etwas gegen IS zu tun.
Eine Stunde später äußerte in Teheran Marzieh Afkham, die Sprecherin des iranischen Außenministeriums, diplomatisch verklausuliert Zweifel, ob die US-Strategie im Irak ohne den Iran erfolgreich sein werde. Im Gegensatz zu den Gemäßigten um Rohani scheinen die Reformer aber – soweit sie sich offen äußern dürfen – über Obamas Vorhaben optimistischer zu denken. Die ihnen nahestehende Webseite Iran Diplomacy bewertete am Nachmittag desselben Tages „Obamas Krieg“ positiv und prophezeite, „dass es nach diesem Krieg einen stabileren Nahen Osten geben wird“. Solche Optimisten kann man aber nur in jenen Medien wahrnehmen, die den Unzufriedenen, man könnte auch sagen: der Opposition nahestehen. Anders ist das bei den eigentlich Mächtigen im Lande, die die offiziellen Medien fast allein beherrschen.
Der künftige Krieg des Generals
Als ob er den amerikanischen Militärs direkt antworten wolle, meldete sich wenige Stunden nach Obamas Rede General Yahya Rahim Safavi von einem iranischen Kriegsschiff im Persischen Golf aus zu Wort. Das Böse, das sich in Gestalt des IS in der Region zeige, müsse man an den Wurzeln packen, und diese seien „nicht hier und nicht in hiesigen Gewässern, sondern jenseits des großen Teichs zu suchen“, so Safavi. Dann folgten die üblichen langen Tiraden gegen die USA, die in der Behauptung gipfelten, man sei in der Lage, die USA „in ihren Gewässern und ihren Hinterhöfen“ anzugreifen. Über die militärischen Fähigkeiten des 56-jährigen Generals, der über zehn Jahre lang Kommandeur der Iranischen Revolutionsgarde war und nun als Militärberater des Staatsoberhaupts Ayatollah Khamenei fungiert, gibt es allerdings momentan eine kontroverse Debatte. Auf einigen iranischen Webseiten zählen seine Gegner seine umstrittenen Entscheidungen im achtjährigen Krieg gegen den Irak auf, andere wiederum sehen das Vertrauen, das der General beim Revolutionsführer genießt, als Beweis seines Könnens und Pluspunkt. Safavi, in der Vergangenheit bekannt als Taktiker und Pragmatiker, tritt nun als Hardliner auf und gilt inoffiziell als verteidigungspolitischer Sprecher des mächtigsten Mann des Landes. Dass er dieser Tage in Sachen IS, Obama und Irak tatsächlich ein geeignetes Sprachrohr seines Herrn ist, daran besteht kein Zweifel.
Das Höchste Gremium lauscht
Kurz nachdem Obama am vergangenen Wochenende beim Natogipfel in Wales verkündete, Amerika werde den IS verfolgen, schwächen und vernichten, gewährte Ayatollah Khamenei in Teheran eine Audienz, die in vieler Hinsicht einmalig war. Eingeladen waren sämtliche 86 Mitglieder des Expertenrates, der gemäß der Verfassung das höchste Gremium der Islamischen Republik ist. Er wird alle acht Jahre gewählt, um nur zweimal im Jahr zu tagen. Seine einzige Aufgabe besteht darin, im Falle des Falles den Führer der Islamischen Republik zu wählen – und ihn zu kontrollieren. Eine Kontrolle findet allerdings nicht statt, denn darüber gibt es keine Einigkeit unter den 86 Abgeordneten, alle greise Ayatollahs mehrheitlich jenseits des achtzigsten Lebensjahrs. Der 84. Präsident des Rates, Mahdavi Kani, liegt seit Wochen in einem Teheraner Krankenhaus im Koma. Vier Abgeordnete starben während der laufenden Legislaturperiode. Pikant ist, dass zwei Tage nach dieser Audienz Ayatollah Khamenei sich selbst für eine Prostataoperation in ein Krankenhaus begeben musste, was seiner Rede vor diesem Gremium, das möglicherweise seinen Nachfolger wählt, eine besondere Note verleiht. Hinzu kommt, dass Khamenei in dieser Ansprache nicht wie sonst einfach losredete, sondern gleich zu Anfang den Hinweis gab, dass er sich für seinen Vortrag genaue Notizen gemacht habe: „Die neue Weltordnung und unsere Aufgabe“, laute sein Thema und konstatierte dabei Grundsätze, die diametral dem widersprachen, was man bisher für die offizielle Haltung der Islamischen Republik hielt, so der Ayatollah.
Abschied von der territorialen Einheit des Irak
Man müsse wissen, dass sich die Welt tiefgreifend verändere, begann Khamenei seine Ansprache und kam zu einem bemerkenswerten Ergebnis, das aufhorchen lässt: Die Grenzen, die die westlichen Mächte nach dem Ersten Weltkrieg in der Region gezogen hätten, würden nicht bestehen bleiben. Und genauso wie bei der Entstehung dieser Grenzen seien die kolonialen Mächte auch jetzt für ihre Veränderung verantwortlich, so Khamenei.
Diese Aussage ist spektakulär, weil der oberste Mann der Islamischen Republik offenbar keine Hoffnung mehr hat, die territoriale Einheit des Irak halten zu können. Angesichts der Umstände dieser Rede gibt es keinen Zweifel darüber, dass diese Aussage keine spontane Äußerung oder übliche Propaganda war. Eine solche Bestandsaufnahme hat aber weitreichende Konsequenzen für den Iran: Wie geht man mit der Zentralregierung in Bagdad um, wie intensiviert man die Zusammenarbeit mit verschiedenen Milizen im Irak, bis wohin geht die Unterstützung für die Kurden? Sogar ihre Politik in Syrien verändert sich grundlegend, wenn die Islamische Republik tatsächlich von einer unvermeidlichen Verschiebung der bestehenden Grenzen ausgeht. Für Khamenei sind die IS-Leute zwar gekaufte Gehilfen des Westens, doch teilt er mit ihnen nicht nur die Einschätzung über die Künstlichkeit der nahöstlichen Grenzen, er ist genauso wie IS vehement gegen eine „Einmischung“ der Amerikaner im Irak.
Strategische Tiefe der Islamischen Republik nutzen
Im zweiten Teil seiner Rede stellte er die These auf, der Westen gehe unvermeidlich einem Niedergang entgegen, denn er befinde sich militärisch, moralisch und wirtschaftlich in einer tiefen Krise. Das konstatierte der Ayatollah mit einem Unterton der Zufriedenheit, um dem Expertenrat dann die rhetorische Frage zu stellen: „Was tun?“ Als ob er den Reformern und dem Präsidenten antworte, sagte Khamenei, den USA solle man nicht vertrauen, so wie manche Regierungen in der Region es täten „und sogar einige Kräfte hierzulande“. Alle würden bald sehen, dass es eine lange Auseinandersetzung geben werde, einen unendlichen Krieg um Grenzverschiebungen und die Entstehung einer neuen Weltordnung. Dabei könne und dürfe der Iran nicht untätig bleiben, das Land müsse im Inneren stark sein, und nach außen brauche man eine „strategische Tiefe“, so der Revolutionsführer weiter: „Elemente dieser Tiefe sind nicht allein die Stärke, die wir im Innern haben, auch verbündete Kräfte und Organisationen in den Nachbarländern gehören dazu, wie jene in Asien und sogar in Lateinamerika. Sie alle müssen wir aktivieren, sie alle gehören zu unserer strategischen Tiefe“, sagte Khamenei am Ende seiner etwa vierzigminütigen Rede, die er offenbar als grundsätzlich und bleibend verstehen will. Manche Oppositionelle sprechen mit dem Hinweis auf seine Prostataoperation sogar von einem zweiten politischen Testament. Das erste stammt vom Republikgründer Khomeini.
Bilder von Qassem Soleymani, dem Kommandeur der iranischen Al-Quds-Brigaden, die ihn in an unterschiedlichen irakischen Gefechtsorten zeigen, sollen die Wachsamkeit der Spezialeinheit im Nachbarland demonstrieren. Soleymanis Beziehung zu Khamenei ist mehr als die eines Untergebenen zum Befehlshaber. Eingeweihte sprechen von einer besonderen emotionalen Bindung. Sucht Soleymani dieser Tag im Irak eine strategische Tiefe gegen den Westen oder wehrt er gemeinsam mit den Amerikanern die unmittelbare Gefahr ab? Wahrscheinlich kann nicht einmal er selbst diese Frage beantworten.
ALI SADRZADEH