Suche nach iranischem „Todesrichter“ in Deutschland

War das Urteil gegen Reyhaneh ein Unrecht? „Ja“, antwortet Shole Pakravan ohne zu zögern. Richter Tardast habe nicht nach Fakten geurteilt, sondern nach Vermutungen. Er hatte betont, „verwestlichte“ junge Frauen gut zu kennen: Sie hätten keine Hemmungen, sich reife reiche Männer zu angeln. Für ihn fiel Reyhaneh in die Kategorie der „Verwestlichten“. Sie hatte in einem ihrer zahlreichen unbeantworteten Briefe an den Richter geschrieben: „Sie verurteilen mich, weil ich in Ihren Augen eine verwestlichte Frau bin.“ Und selbst wenn des Richters Vermutung richtig wäre: Warum hätte Rehyaneh den Mann dann töten sollen, hatten die Mutter und ihr Anwalt mehrfach zu bedenken gegeben.

Der Getötete war Mitarbeiter des iranischen Geheimdienstes gewesen, er war verheiratet und dem Anschein nach fromm. Also kann so ein Mann niemals eine junge Frau vergewaltigen wollen. Er muss ermordet worden sein, aus niederen Beweggründen. Dafür musste meine Tochter gehängt werden“, so die seit 2017 in Deutschland lebende Theaterschaffende Pakravan. Im Urteil wurde als Tatmotiv „unbekannt“ angegeben. Auch das oberste Gericht der Islamischen Republik nennt in seinem Urteil kein Tatmotiv. „Die Aktenlage war so lückenhaft, dass selbst Familienangehörige des Getöteten mit den Ermittlungen unzufrieden waren“, sagt Shole Pakravan gegenüber dem Iran Journal.

Ein mysteriöser Dritter

Dass es viele Ungereimtheiten in der Ermittlungsakte gab, sei für Tardast kein Grund gewesen, an der Mordabsicht von Reyhaneh zu zweifeln, sagt Pakravan. Ihre Tochter habe die Wohnung des Getöteten erst verlassen können, nachdem ein Mann – in der Akte „Sheykhi“ genannt – die Wohnung mit einem eigenen Schlüssel betreten hatte.

Reyhaneh Jabbari
Reyhaneh Jabbari

Dieser Mann konnte aber nie ausfindig gemacht werden. War er auch ein Mitarbeiter des Geheimdienstes und sollte gedeckt werden?

Alles, was mit Sheykhi zu tun hatte, war auf einer CD gespeichert, die aber während des Prozesses verloren ging“, schreibt Mohammad Mostafaei, einer von Reyhanehs Anwälten, in einem Facebookeintrag: „Diese verschwundene CD ist die Black-Box des Falls.“

Nach Reyhanehs detaillierten Angaben war auch ein Phantombild von „Sheykhi“ angefertigt worden. „Warum wurde dieses Bild nicht in den Medien veröffentlicht? Warum hat man nicht die Öffentlichkeit für die Suche nach ihm um Hilfe gebeten?“, fragt Shole Pakravan, um selbst zu antworten: „Weil er sehr wahrscheinlich zum Zirkel der Mächtigen gehört.“ Einige Prozessbeobachter*innen, auch Anwalt Mostafaei, vermuten sogar, dass der mysteriöse Dritte der Mörder sei.

Reyhaneh habe den Getöteten mit dem Messer nur einmal an der rechten Schulter verletzt, erklärt der Anwalt – für Richter Tardast ein wichtiges Indiz, dass der Getötete Reyhaneh nicht vergewaltigen wollte und diese ihn heimtückisch von hinten angegriffen habe. Aber warum?

Spuren, die nicht berücksichtigt wurden

Reyhaneh war Innenausstatterin und sollte die Arztpraxis des Getöteten, der sich ihr gegenüber als Chirurg ausgegeben hatte, einrichten. Nach zwei telefonischen Kontakten holte er sie ab, um sie in die angebliche Praxis zu fahren. Doch als sie ankamen, bemerkte Reyhaneh, dass die Praxis eine normale Wohnung ist. Sie möchte nicht dort bleiben, bemerkt aber, dass die Tür abgeschlossen ist.

Auch in der Akte steht, dass die Polizeibeamten Spuren an der Innenseite der Wohnungstür gefunden haben, die darauf hinweisen, dass Reyhaneh versucht hat, die Tür aufzubrechen oder durch Schläge an die Tür um Hilfe zu rufen“, sagt Shole Pakravan: „Die Polizei hat auch festgestellt, dass sie nicht einmal ihr Kopftuch abgelegt hatte, denn am Kopftuch war eine Blutspur zu sehen.“

Wäre Reyhaneh eine Prostituierte gewesen, warum hätte sie dann nicht ihr Kopftuch ablegen sollen? Warum sollte sie einen einflussreichen Mann töten, der für solche Frauen wichtig ist? Diese und viele ähnliche Fragen, die auch dem Richter gestellt wurden, beschäftigen Reyhanehs Mutter noch sechs Jahre nach der Hinrichtung ihrer Tochter.

Internationaler Protest
Fortsetzung auf Seite 3