Iran und eine Schlagzeile in den Weltmedien

Predigen war der einzige Beruf bzw. die einzige Berufung der schiitischen Geistlichen. Ihr Herrschaftsanspruch ist ihre Daseinsberechtigung. Deshalb haben sie sich zu veritablen Propagandameistern entwickelt. Vor ihrer Manipulation sind auch die westlichen Leitmedien nicht gefeit.

Von Ali Sadrzadeh

„Von Jenen, deren Wachsein viel schlimmer ist als ihr Schlaf“: So lautet der Titel des Beitrags, den der Soziologe Mohammad Reza Tajik am vergangenen Donnerstag in der Teheraner Tageszeitung Etemad veröffentlichte. Auf seiner Webseite sind dreißig Bücher, zahlreiche Essays und Dutzende Übersetzungen gelistet, die er während seiner akademischen Laufbahn veröffentlicht hat.

Der 64-jährige Soziologe lehrt politische Kommunikation an einer Teheraner Hochschule, allerdings höchstwahrscheinlich nicht mehr sehr lange. Denn die Säuberung der Unis von nicht ganz linientreuen Professoren hat sich in den letzten Wochen beschleunigt.

„Wir sind in einer Irrealität gelandet, zu Schauspielern und gleichzeitig Zuschauern des eigenen Stücks geworden. In diesen historischen Tagen hat sich das Land zu einer Bühne des surrealen Theaters verwandelt. Hier gibt es alles zu sehen: Dramatisches, Komisches, Tragisches, Gravierendes und viel Banales. Und immer, wenn diejenigen, die in die Herrscherrolle geschlüpft sind, gähnen müssen, bricht die Gelegenheit für die anderen Schauspieler aus. Das Gähnen des Einen ist das Wachrütteln des Anderen.“

Widerstand und Staatszerfall rasten im Iran auf einander zu, doch die Aufgewecktheit der Herrschaft, vor allem ihre Propagandakünste, dürfe man nicht unterschätzen, schrieb Tajik einen Tag später auf seinem Blog. Recht hat der Soziologe.

Predigen im 21. Jahrhundert

Beruf und Berufung eines Mullahs war und ist nur das Predigen – das man auch als öffentliche Indoktrination, redegewandte Stimmungsmache und Hetze gegen Andersgläubige bezeichnen kann (und muss). Die schiitische Geistlichkeit, die seit ihrem Bestehen einen universellen Herrschaftsanspruch hat, ist nun im 21. Jahrhundert gelandet und hat mehr als vier Dekaden direkte, komplizierte Herrschaftserfahrung hinter sich.

Und: Ihr stehen alle modernen Werbemittel unserer Zeit zur Verfügung, die sie sehr gut einzusetzen weiß. Das beste Beispiel dieser Tage ist die Meldung über Khameneis „zehntausendfache Begnadigungen“, die es in fast allen Leitmedien der Welt von Washington bis Tokio auf die erste Seite schaffte.

Die Islamische Republik Iran hat ein Netz von Medien in vielen Sprachen aufgebaut, die für das Regime Propaganda betreiben
Die Islamische Republik Iran hat ein Netz von Medien in vielen Sprachen aufgebaut, die für das Regime Propaganda betreiben

Ein journalistischer GAU

„Khamenei begnadigt Zehntausende Gefangene“: Das war auch der Aufmacher der FAZ vom 5. Februar. Diese Schlagzeile las man an diesem Tag in unterschiedlichen Varianten bei allen großen und kleinen Blättern der Republik auf der ersten Seite, hörte man in allen Radionachrichten, sah man auf diversen TV- Kanälen.

Doch ist diese Schlagzeile die Missachtung fast allen journalistischen Handwerks. Vom Inhalt der Meldung ganz zu schweigen. Denn Khamenei hatte an diesem Tag weder jemanden begnadigt, noch hatte er etwas dazu gesagt oder angeordnet. Die „Begnadigung“ war nichts anderes als ein langer Brief des Justizchef an den mächtigsten Mann des Landes mit der Frage, ob bestimmte Inhaftierte unter bestimmten Bedingungen freigelassen werden dürften. Mehr nicht.

Hätte man sich die Konditionen dieses Briefes ein wenig genauer angeschaut, wäre auch die Begnadigungsschlagzeile stark konditioniert worden, man hätte sie journalistisch mit Sicherheit anderes bewertet, sie anders platziert. Offiziell gibt es keine genaue Zahl dazu, wie viele Menschen im Zuge der Proteste im Iran inhaftiert wurden. Die „Zehntausenden“ waren an jenem Tag nur die Vermutung des Agenturjournalisten, die hiesige Redaktionen auf die erste Seite hievten, ohne ein Mindestmaß an Überprüfung, ohne nach Fakten und Tatsachen zu suchen. Und diese Redaktionen wissen, dass die meisten Nachrichtenagenturen den Iran von den Nachbarländern aus, vorwiegend aus den Golfstaaten „betreuen“.

An dieser Stelle holen wir ein wenig nach, schauen uns an, womit die iranische Justiz in jenen Tagen tatsächlich beschäftigt war, als man in den deutschen Medien von der „Begnadigung Zehntausender“ las. Nur einige gravierende Beispiele.

11 Jahre für eine Gedichtzeile

Vida Rabbani
Vida Rabbani

„Du bist ein Gläubiger und Dein Gebet ist Dein Kuss.“ Das ist ein Vers aus einem Gedicht eines afghanischen Dichters, das die Journalistin Vida Rabbani auf ihrer Instagram-Seite wiedergegeben hat. In einem Prozess, veranstaltet kurz vor dem Tag der angeblichen „Massenbegnadigung“, wurde die 33-Jährige wegen Beleidigung und Herabsetzung der heiligen Pflicht zu elf Jahren Haft verurteilt.

Als der iranische Außenminister Anfang vergangener Woche in Genf vor der UN- Menschenrechtskommission behauptete, im Iran gebe es keinen Journalisten im Gefängnis, schrieb ihm Rabbani: „Als ich in meiner Zelle Ihre Behauptung hörte, fragte ich mich, ob Sie auch behaupten könnten, dass Sie nie die Namen meiner Kolleginnen Elahe Mohammadi und Nilufar Hamedi gehört hätten.“

Niloufar Hamedi, Elahe Möhammadi, Landesweite Proteste Iran, Mahsa Amini
Inhaftierte Journalistinnen während der Unruhen im Sep. 2022. 

Elahe Mohammadi war die erste Journalistin, die nach der Einlieferung von Mahsa Amini bei ihr im Krankenhaus war. Sie machte das berühmte Foto von der sterbenden jungen Frau, die von Sittenpolizei ermordet worden war. Ihre Kollegin Nilufar Hamedi hatte über Mahsas bewegende Beerdigung in ihrer Heimatstadt berichtet. Beide sitzen seitdem ohne Anklage in Einzelhaft, niemand durfte sie bis jetzt besuchen, auf Webseiten, die den Revolutionsgarden nahestehen, wird von Spionagetätigkeit und ausländischen Aufträge schwadroniert.

Diese Journalistinnen waren im Auftrag ihrer Redaktionen unterwegs.

Das Schicksal des „Predigers der Gewaltlosigkeit“
Fortsetzung auf Seite 2