BREXIT: IranerInnen zwischen Sorge und Schadenfreude
Großbritannien hat sich gegen den Verbleib in der EU entschieden. Jetzt heißt es Brexit – und nun? Auch im Iran und unter auf der Insel lebenden ExiliranerInnen wird darüber heiß diskutiert.
Vier Tage nach dem Referendum über den Verbleib Großbritanniens in der Europäischen Union, bei dem eine knappe Mehrheit der Briten für einen Austritt stimmte, steht Europa immer noch unter Schock. Während die proeuropäische Politikerkaste überwiegend ihr Bedauern über den Ausgang der Wahl zum Ausdruck bringt, zeigt sich eine Mehrheit der hauptsächlich jungen NutzerInnen sozialer Netzwerke geradezu entsetzt über das Stimmverhalten der Briten. In erbittert geführten Facebook-Debatten lassen AnhängerInnen und GegnerInnen des Brexit kein gutes Haar aneinander.
Der Austrittswunsch Großbritanniens aus der EU lässt auch die IranerInnen nicht kalt. Zahlreiche PolitikerInnen und User von Facebook & Co. äußerten in den vergangenen Tagen ihre Meinung zur Entscheidung der britischen Bevölkerungsmehrheit. Aus dem iranischen Außenministerium heißt es: „Als ein demokratisches System respektiert die Islamische Republik Iran das Votum der Mehrheit des britischen Volkes für einen Austritt aus der EU.“ Der Iran habe schon immer für eine Ausweitung der Beziehungen zu europäischen Staaten „auf Basis gegenseitigen Respekts und der Nichteinmischung in interne Angelegenheiten“ gestanden. Der Austritt Großbritanniens aus der EU werde an diesem Ansatz nichts ändern, ist in einem auf der Webseite des iranischen Außenministeriums veröffentlichen Statement zu lesen.
Weniger neutral äußerte sich der Diplomat und außenpolitische Berater Präsident Hassan Rouhanis, Hamid Aboutalebi, auf seinem Twitter-Account: Das Votum der Briten sei ein „politisches Erdbeben“, die EU habe schon längst das Vertrauen ihrer Bevölkerung verloren, so der Außenpolitiker. „Großbritanniens Austritt aus der EU ist eine historische Chance für den Iran“, twittert Aboutalebi, ohne jedoch zu spezifizieren, worin diese vermeintliche „historische Chance“ aus seiner Sicht besteht.
Noch deutlicher äußert sich Foad Izadi, einer der einflussreichsten konservativen Akademiker des Iran, der häufig von Hardliner-Medien zu außenpolitischen Angelegenheiten befragt wird: „Das Vereinigte Königreich steht in der EU für eine anti-iranische Haltung. Der Brexit ist gut für den Iran und die islamische Welt“, ist auf Izadis Twitter-Account zu lesen.
Auch Masoud Jazayeri, General der traditionell ultrakonservativen Revolutionsgarde, konnte seine Freude über den Ausgang der Volksabstimmung nicht verbergen: Der Wunsch der britischen Bevölkerung, die EU zu verlassen, sei in Wahrheit ein „Nein“ der Bevölkerungsmehrheit zur „Bevormundung der Briten durch die USA“. Die EU könne nur dann bestehen, wenn sie es schaffe, sich vom Weißen Haus loszusagen, so der Kommandant. Schottland und andere Länder sollten das Recht haben, sich vom Joch der Krone des sogenannten Großbritanniens loszusagen“, wird Jazayeri von der ultrakonservativen Nachrichtenagentur Fars News zitiert.
Respekt vor demokratischer Entscheidung
Auch iranische Zeitungen kommentieren die Brexit-Entscheidung: Der britische Premierminister habe ein hohes Maß an demokratischem Verständnis bewiesen, indem er die für ihn bittere Entscheidung seines Volkes akzeptiert und mit seinem Rücktritt politische Konsequenzen gezogen habe, ist in der Zeitung Shahrvand zu lesen. Die Auswirkungen des Brexit auf den Iran seien nur schwer vorherzusehen. Es sei jedoch davon auszugehen, dass die EU durch den Austritt eines ihrer mächtigsten Länder nun stärker zum Einflussbereich der USA werde, was nichts Gutes für den Iran bedeuten könne, ist in Shahrvand zu lesen.
Die Zeitung Vaghaye Etefaghie wiederum sieht in einem Leitartikel zum Brexit die EU von der Auflösung bedroht. „Wenn ein Pfeiler der EU diese verlässt, dann ist zu erwarten, dass viele weitere Staaten Großbritanniens Beispiel in Zukunft folgen.“
„Gott hat uns endlich erhört“
Der Schadenfreude Izadis und Jazayaris über den Ausgang des Brexit-Referendums schließt sich vor allem die Leserschaft der Fars News an. „Das Empire ist für seine dunklen Machenschaften vom eigenen Volk böse bestraft worden“, schreibt Teemsar. „Seit Jahrzehnten rufen wir schon ‚Tod England‘. Jetzt hat Gott uns endlich erhört“, schreibt wiederum ein anonymer Konservativer. Auch andere Besucher des Nachrichtenportals sehen das Ende Großbritanniens kommen: „Das Vereinigte Königreich wird zerfallen. Schottland will sich abspalten und auch Irland wird bald vereint und frei von der britischen Krone sein“, prophezeit Fazeli. An den Sohn des 1979 gestürzten Schahs gerichtet schreibt Userin Jamileh: „Ich hoffe, dass du die Ereignisse genau verfolgst, Prinz Pahlavi. Die letzten deiner Art sind im Begriff zu verschwinden.“ Doch auch die EU wird zur Zielscheibe konservativen Spotts: Diese habe vom britischen Volk einen Denkzettel verpasst bekommen, schreibt ein anonymer Fars-News-User. „Es ist ein Genuss, zu sehen, wie sich Europa selbst demontiert“, jubelt Meshkipoosh.
Geschockte Anglo-IranerInnen
Anders sieht die Stimmung der IranerInnen auf anderen Plattformen aus: Bei UserInnen der britisch-iranischen Nachrichtenplattform Iranian UK überwiegt vor allem das Gefühl der Sorge. „So etwas passiert, wenn Menschen auf ihr Bauchgefühl hören statt auf ihren Verstand.“ Er hoffe nur, dass diese „kollektive Fehlentscheidung“ nicht dazu führe, dass Großbritannien zu einer einwanderungsfeindlichen Gesellschaft werde, schreibt Ali1111. „Das Referendum war ein deutliches Aufbegehren der britischen Bevölkerung gegen die Einwanderung von Muslimen“, glaubt auch SydneyWater zu wissen. Das Ergebnis werde sowohl für England und Europa als auch für den Rest der Welt „schlimme Folgen“ haben, glaubt Azad_UK zu wissen: „Jetzt fehlt nur noch, dass Donald Trump US-Präsident wird. Dann ist das Chaos perfekt.“
Auch auf sozialen Netzwerken wie Facebook liest man viele besorgte Kommentare: „Als iranische Londonerin bin ich geschockt. Ich verstehe nicht, wie dieses Ergebnis zustande gekommen ist. Wie kann man sich in einem Zeitalter, in dem die Menschheit immer mehr aneinanderrückt, isolieren wollen?“, fragt Samira auf der Facebookseite von BBC Persian. „Ich bin Iraner, ich bin Brite, aber Europäer darf ich nicht mehr sein“, schreibt Amir. Ein weiterer BBC-Leser mit Namen Farzad schreibt: „Ich kann meine Wut gar nicht in Worte fassen. Das Wahlresultat zu hören hat sich für mich wie ein Schlag in die Magengrube angefühlt. Ich hätte es niemals für möglich gehalten, dass die Menschen eine so dumme und fatale Entscheidung treffen“, ätzt der enttäuschte Anglo-Iraner.
Sorge um wirtschaftliche Zukunft
Besonders groß scheint die Sorge der in Großbritannien lebenden IranerInnen um die Wirtschaft zu sein: „Wir haben uns als Gesellschaft am Donnerstag selbst ins Knie geschossen“, schreibt Parnia auf der Facebookseite von DW Farsi. Großbritannien habe sich eigenhändig seiner wirtschaftlichen Stärke beraubt, glaubt sie zu wissen. „Die Lügenkampagne des Leave-Lagers setzt unsere Zukunft auf’s Spiel“, schreibt auch Mohammad auf der Facebookplattform von Euronews Persian. „Idiotie hat über wirtschaftliche Vernunft gesiegt“, schimpft wiederum Oldooz auf BBC Persian.
Doch es gibt auch andere Stimmen: „Es ist eine Frechheit, die Mehrheit einer Bevölkerung als unwissende Idioten abzustempeln. Die Briten hatten genug Zeit, sich im Rahmen einer von beiden Seiten erbittert geführten Kampagne über die wirtschaftlichen Folgen zu informieren, und das haben sie auch gemacht“, schreibt Alireza. „Wir Iraner fordern doch immer, dass im Iran der Volkswille erhört werden soll, dass die Menschen in einer freien und gerechten Wahl selbst über ihre Zukunft entscheiden können. In Großbritannien wird eine solche Wahl realisiert, und was passiert? Wir ätzen gegen den Wahlausgang und beschimpfen jene, die eine andere Meinung vertreten“, schreibt Pedram unter einem Nachrichtenbeitrag von Radiofarda. „Ich glaube nicht, dass die Entscheidung der Briten für sie katastrophale Folgen haben wird“, kommentiert wiederum Ahmad Emami einen Nachrichtenbeitrag von Gooya News. „England ist ein starkes Land und wird sich bald vom ersten Schock erholen“, glaubt er zu wissen. Vielmehr müssten sich Deutschland und Frankreich um ihre wirtschaftliche Zukunft sorgen. Die Verantwortlichen kämen nicht darum herum, ihre Wirtschaftspolitik so zu verändern, dass andere Staaten nicht mehr den Wunsch hegten, aus der EU auszutreten, schreibt Ahmad Emami weiter.
JASHAR ERFANIAN