Tabubruch im iranischen Kino
Die landesweiten und noch andauernden Proteste im Iran haben auch das iranische Kino beeinflusst. Es entstanden Filme, in denen Tabus gebrochen wurden: etwa die Zwangsverschleierung und das Berühren der Haut zwischen Frau und Mann.
Von Fahimeh Farsaie
Im Jahr 2008 wurde die iranische Starschauspielerin Golshifteh Farahani im Iran massiv unter Druck gesetzt, weil sie in einem amerikanischen Film keinen Hijab trug. Sie musste schließlich das Land verlassen. Knapp vierzehn Jahre danach, unmittelbar nach dem Mord an Jina Mahsa Amini und dem Beginn der darauf folgenden landesweiten Proteste im Iran, veröffentlichten Dutzende iranischer Schauspielerinnen nicht nur Bilder von sich ohne Hijab, sondern stellten auch bei öffentlichen Zeremonien die im Iran obligatorische islamische Verschleierung in Frage.
Prominenter Protest
In den ersten Tagen dieser Proteste veröffentlichte die prominente iranische Schauspielerin Katayoun Riahi ein Bild von sich selbst auf Instagram, auf dem sie keinen Hijab trug. Dies hatte breite Resonanz in verschiedenen Medien und löste heftige Angriffe der regierungsnahen islamisch-konservativen Medien gegen sie aus.
Diese Angriffe führten jedoch nicht dazu, dass andere bekannte Schauspielerinnen ihren Protest gegen den erzwungenen Hijab einstellten. Im Gegenteil: Dem Beispiel folgte unter anderem die Schauspielerin Fatemeh Motamed-Arya. Bei der Beerdigungszeremonie des Schauspielers Amin Tarokh am 25. September ging sie ohne Kopftuch ans Mikrofon und sprach über ihren verstorbenen Kollegen.
Dies war das erste Mal seit der Einführung des erzwungenen Hijabs nach der Islamischen Revolution, dass eine prominente Schauspielerin bei einer öffentlichen Veranstaltung ohne Hijab auftrat. Die historische Aktion von Motamed-Arya markierte den Beginn einer bemerkenswerten Unterstützung für weibliche Filmschaffende und war Teil der größten Frauenbewegung in der Geschichte des Iran nach der Islamischen Revolution.
Taraneh Alidoosti, die zu den bekanntesten Schauspielerinnen der vergangenen zwei Jahrzehnte im iranischen Film gehört, folgte ihren Kolleginnen: Im November letzten Jahres veröffentlichte sie ein Foto von sich auf ihrem Instagram-Account, auf dem sie ohne Hijab zu sehen war, und schloss sich damit den protestierenden Frauen an. Auf diesem Bild hielt sie ein Plakat, auf dem in kurdischer Sprache stand: „Frau, Leben, Freiheit“.
Auswirkungen der Proteste
So wie die iranische Revolution im Jahr 1979 das iranische Kino grundlegend veränderte und in zwei Epochen vor und nach der Revolution zerteilte, scheint die Protestbewegung „Frau, Leben, Freiheit“ die iranische Filmindustrie auf ähnliche Weise in zwei Ären zu teilen. Infolgedessen haben sich die Filmproduktion im Iran sowie die Präsenz des iranischen Kinos auf internationalen Filmfestivals vollständig verändert.
Vor der Bewegung wurde das iranische Kino in der Regel durch lizenzierte Produktionen dominiert, die selbst für die Teilnahme auf internationalen Filmfestivals eine Genehmigung des „Ministeriums für Kultur und islamische Führung“ benötigten. Obwohl Filmemacher wie Jafar Panahi und Mohammad Rasoulof in den letzten Jahren diese Praxis in gewissem Maße verändert haben, wagte keiner von ihnen, einen Film ohne die Einhaltung der Verschleierungsvorschriften zu drehen.
Nach der Bewegung sind bisher vor allem drei Filme bekannt geworden, die ohne Erlaubnis der Islamischen Republik Iran und ohne Einhaltung der vom Regime vorgeschriebenen islamischen Normen gedreht und auf verschiedenen internationalen Filmfestivals gezeigt wurden: „Ich, Maryam, die Kinder und 26 andere“ unter der Regie von Farshad Hashemi, „Die dunkle Substanz“ von Karim Lakzadeh und „Die Krisenregion“ von Ali Ahmadzadeh.
All diese Filme haben Preise gewonnen und internationale Anerkennung erhalten.
Geänderter Auswahlprozess
Vor den Protesten war der Auswahlprozess von Filmen bei internationalen Festivals in der Regel auf eine Mischung aus Werken von unabhängigen Filmemacher*innen und mehreren Filmen aus dem offiziellen iranischen Kino beschränkt. Im vergangenen Jahr hat sich jedoch alles verändert, und internationale Filmfestivals wurden ohne die Präsenz des offiziellen iranischen Kinos veranstaltet. So hat die Berlinale als erstes internationales Filmfestival im Februar 2023 alle Regierungsvertreter und staatlich kontrollierten Medienvertreter aus dem Iran sanktioniert. Auf diese Weise wurde auf dem großen Markt der Berlinale statt der üblichen Stände staatlicher iranischer Institutionen wie der Farabi Foundation ein Stand der „Vereinigung unabhängiger Filmemacher im Iran (VFI)“ mit einem großen Poster der „Frau, Leben, Freiheit“-Bewegung eingerichtet. Die VFI wurde im November 2022 während der landesweiten Proteste gegründet. Laut Adela Cheraghi, einer der Sprecher*innen der Vereinigung, sind mehr als 50 iranische Filmemacher*innen der VFI beigetreten. Zu den Mitgliedern gehören Shirin Neshat, Mostafa Azizi, Abdolreza Kahani, Nima Javidi, Kaveh Farnam und Ali Abbasi. Die Namen einiger inländischer und im Ausland lebender Mitglieder seien zur „Sicherheitsvorkehrung“ noch nicht bekanntgegeben worden, so Cheraghi.
Packende Rede des @Berlinale -Jurymitglied @Golshifteh Farahani bei Eröffnung der Filmfestspiele. Sie betont die Wichtigkeit der internationalen Solidarität mit Iraner:innen in ihrem Kampf gegen das islamische Regime im #Iran. https://t.co/c0DCFK0pm9
— Iran-Journal (@iran_journal) February 17, 2023
Widerstand gegen das staatliche Kino
Die VFI erklärte am 15. August anlässlich des Jahrestags der „Frau, Leben, Freiheit“-Bewegung: „Die Regierung hat sich in den vier Jahrzehnten nach der Islamischen Revolution bemüht, das Kino zu monopolisieren und es als ein Instrument für ihre Propaganda zu nutzen, um jegliche Form von Protest und Kritik zum Schweigen zu bringen. Trotz der Zensur nahm die unabhängige Strömung zuerst im Kino offen Gestalt an und entwickelte sich dann aufgrund der Verfolgung und Inhaftierung von Filmschaffenden unterirdisch weiter. Sie leistete Widerstand gegen das staatliche Kino.“
Die VFI erinnerte auch daran, dass im vergangenen Jahr einige Werke produziert wurden, „die sich über die Akzeptanz des Schleiers und staatlicher Zensur hinwegsetzten und versuchten, ein authentisches Bild der jungen Generation, der Frauen und der Gesellschaft zu zeichnen“. Im ersten Schritt wurden der Film „Ich, Maryam, die Kinder und 26 andere“ von Farshad Hashemi zusammen mit dreizehn anderen Filmen, die alle ohne Einhaltung der Schleier-Vorschriften produziert wurden, auf dem Filmfestival in Cannes gezeigt.
Zwei Underground-Filme
Zuvor hatte das Locarno Film-Festival den Underground-Film „Die Krisenregion“ in seinem Wettbewerbssegment präsentiert. Der Film erzählt eine Nacht im Leben eines jungen Mannes; ein Drogendealer und Verkäufer, der sein Leben allein mit seinem Hund verbringt und dabei auf verschiedene Personen trifft. In dem Film ergreifen ein Mann und eine Frau sich an den Händen. Die Frauen treten ohne Zwangs-Hijab vor die Kamera. Normale Dinge, die sich täglich in der ganzen Welt ereignen – aber im Laufe der mehr als vier Jahrzehnte währenden Herrschaft der Islamischen Republik im iranischen Kino war jede Form der Darstellung solcher normalen und alltäglichen Ereignisse verboten und undenkbar. „Die Krisenregion“ gewann die Goldene Leopard-Auszeichnung für den besten Film des Festivals.
Film im Film
Der Film „Ich, Maryam…“ hat eine einfache Handlung. Die Hauptfigur des Films, eine introvertierte und melancholische junge Frau, lebt in der Vergangenheit und mit den Erinnerungen an ihre verlorenen Lieben. Um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, vermietet sie ihre Wohnung an eine Filmcrew. Diese Hintergrundgeschichte ermöglicht es dem Regisseur, den Großteil des Films in Innenräumen zu drehen und ihn weitgehend in Übereinstimmung mit der Realität der heutigen Gesellschaft zu gestalten. Die junge Frau trägt zu Hause keinen Schleier, und die anderen Darstellerinnen tragen den Hijab nur, wenn sie das Haus verlassen oder vor der Kamera für die Dreharbeiten zu ihrem Kurzfilm stehen. Dies spiegelt die alltäglichen Beziehungen im heutigen Iran wider, bei denen es auf persönlicher Ebene keine Einschränkungen für das gemeinsame Sitzen, Händchenhalten, Umarmen und Tanzen von Männern und Frauen gibt.
Am Ende der Dreharbeiten hat sich die Hauptfigur komplett verändert – eine Metapher für die Magie des Kinos. Kraft dieser Magie werden auch in den nächsten Jahren iranische Filme, die auf nicht lizenzierten Aufnahmen basieren, ihren Weg zu internationalen Filmfestivals finden.