Shahid Saless: der unbekannte Weltengänger

Der transnational arbeitende iranischstämmige Filmemacher Sohrab Shahid Saless wird „der große Unbekannte des Neuen Deutschen Films“ genannt. Mit einer voluminösen Trilogie setzt ihm der promovierte Germanist Behrang Samsami ein Denkmal.

Von Fahimeh Farsaie

Der Titel von Behrang Samsamis Trilogie ist komplex: „Die langen Ferien des Sohrab Shahid Saless – Annäherungen an ein Leben und Werk“. Er bezieht sich zum einen auf das 24-jährige Exilleben des iranischen Drehbuchautors und Regisseurs Sohrab Shahid Saless (1944–1998) und beinhaltet zum anderen eine Anspielung auf dessen Dokumentarfilm „Die langen Ferien der Lotte Eisner“ von 1979. Die deutsch-jüdische Filmkritikerin flüchtete im Frühjahr 1933 vor den Nazis aus Deutschland nach Paris. In Shahid Saless’ Film erzählt sie von ihrer Ankunft dort bei ihrer Schwester: „Da sagte mein Schwager zu mir: ‚Du bist auf Ferien hier.‘ Und ich sagte: ‚Eugène, es werden sehr lange Ferien sein.‘“

Es ist das erste Mal nach Shahid Saless’ Tod vor 25 Jahren, dass ein Autor sich mit seiner Biografie und seinen Werken auseinandersetzt. Der erste etwa 600 Seiten umfassende Buch befasst sich mit seinem Lebenslauf, der ca. 500-seitige zweite Band hat den Schwerpunkt Analysen der Spiel- und Dokumentarfilme und der ca. 400-seitige dritte Band beschäftigt sich mit Interviews über Shahid Saless und ausgewählten Selbstzeugnissen. Diese umfangreiche Trilogie ist Samsamis Versuch, „Saless hierzulande als cineastischen ‚Weltengänger‘ (wieder) ins Bewusstsein zu rücken“.

Trilogie von Behrang Samsami - Foto: Exil Verlag
Trilogie von Behrang Samsami – Foto: Exil Verlag

Tschechow als Vorbild

Shahid Saless wollte im Film den Stil des russischen Schriftstellers und Dramatikers Anton Tschechow nachahmen. 1974 sagte er in einem Interview: „Was mich sehr interessiert, ist Tschechows Art, zu schreiben. Ich bemühe mich sehr, so zu filmen, wie er geschrieben hat.“ In der ersten Phase seines filmischen Schaffens versuchte er, sich Tschechow mit langen und stillen Einstellungen sowie ihren Wiederholungen zu nähern. Das Ergebnis waren zwei außergewöhnliche Filme, die er 1974 auf der Berlinale zeigte: „Stillleben“ im Wettbewerb und „Ein einfaches Ereignis“ auf dem Internationalen Forum des jungen Films. Shahid Saless erhielt für beide eine Vielzahl an Preisen, unter anderem den Silbernen Bären für „Stillleben“. Ein Jahr zuvor hatte sein Debüt beim Zweiten Internationalen Teheraner Filmfestival die Goldene Ibex für die beste Regie erhalten.

„Ein einfaches Ereignis“ erzählt vom monoton ablaufenden Alltag eines zehnjährigen Jungen, der jeden Tag in die Schule geht, aber nichts lernt. Er lebt mit seiner armen Familie in einer abgelegenen Stadt am Kaspischen Meer. Die Mutter leidet an Tuberkulose, trotzdem erledigt sie schweigsam die ganze Hausarbeit. Der Vater versucht mit illegalem Fischfang seine Familie zu ernähren. Ansonsten passiert in „Ein einfaches Ereignis“ nicht sehr viel.

Neue Welle im Iran

In „Stillleben“ geschieht genauso wenig. Der Film schildert stimmungsreich den einfachen, gleichförmigen Berufs- und Ehealltag eines Schrankenwärters, der an einer verfallenen Bahnstation arbeitet. Mit diesen zwei Filmen gelang es Shahid Saless, wie Dariush Mehrjui und Masoud Kimiai ein Teil der Neuen Welle des iranischen Kinos zu werden, die in den 1960er Jahren begann und bis zur Revolution 1979 anhielt. Damals dominierten im iranischen Filmmarkt klischeehafte Unterhaltungsstreifen sowie triviale US- und Karatefilme. Die Vertreter der Neuen Welle, deren Erzählweise vom italienischen Neorealismus und der französischen Nouvelle Vague geprägt war, haben mit ihrer ästhetisch anspruchsvollen Darstellung der Realität das iranische Kino revolutioniert. Alle wollten die Lebenswahrheit unverfälscht wiedergeben.

„Stillleben“ ist der letzte Film, den Shahid Saless im Iran drehte. Er hatte zwischen 1968 und 1973 über 20 Dokumentarfilme für das iranische Kulturministerium gedreht, darunter Filme über Rituale der Derwische, über die politischen und gesellschaftlichen Reformen des Schahs – genannt „Weiße Revolution – und den technischen Fortschritt. Zuvor hatte er von 1963 bis 1967 in Paris und Wien Regie und Dramaturgie sowie Filmgestaltung und Fernsehen studiert: „Als Ausländer bekam ich aber selten den Fotoapparat und die Filmkamera in die Hand: Ich könnte die teuren Geräte kaputt machen.“

Filme in Deutschland und in der Tschechoslowakei

Nachdem Saless 1974 nach Westdeutschland emigriert war, fing die zweite Phase seines filmischen Schaffens an. In dieser Periode sind die Stories der Filme kühner, die zwischenmenschlichen Beziehungen sind komplexer, die Atmosphäre ist spannender und dadurch der Rhythmus schneller. So drehte er insgesamt vier Kino-, sieben Fernseh- und drei Dokumentarfilme, für die er eine Vielzahl an Preisen erhielt: „In der Fremde“ (1974), „Reifezeit“ (1975), „Die langen Ferien der Lotte Eisner“ (1979), „Ordnung“ und „Grabbes letzter Sommer“ (1980), „Utopia“ (1983) und „Rosen für Afrika“ (1991) sind nur einige Beispiele. Zwei seiner Fernsehfilme, „Der Weidenbaum“ (1984) – seine einzige Tschechow-Verfilmung – und „Hans – Ein Junge in Deutschland“ (1985), drehte er zum Teil oder ausschließlich in der Tschechoslowakei. Danach siedelte Shahid Saless in die sozialistisch regierte Tschechoslowakei über. Um 1990 kehrte er in die Bundesrepublik zurück und erhielt Ende 1994 den Großen Preis der Stiftung des Verlags der Autoren für sein Gesamtwerk.

Viele Filmkritiker*innen bezeichnen Shahid Saless’ düsteres Werk „Utopia“ als seine wohl beste Arbeit. Fünf Jahre lang versuchte er, das Drehbuch dafür unterzubringen. Der Film spielt im Berliner Bordellmilieu und räumt mit allen Klischees auf. Er schildert den trostlosen Alltag von fünf Prostituierten, die von ihrem rüden Zuhälter tyrannisiert, erniedrigt und geschlagen werden. „Utopia“ kulminiert in einer brutalen Bluttat, als die Frauen ihren Zuhälter gemeinschaftlich umbringen.

Erster Schritt

Mit seinen präzisen Gesellschaftsbeobachtungen leistete Shahid Saless einen wichtigen Beitrag zum deutschen Kino der siebziger und achtziger Jahre – genau wie Rainer Werner Fassbinder, Volker Schlöndorff und Wim Wenders, obwohl er heute leider weniger bekannt ist als seine Kollegen. Die voluminöse Trilogie „Die langen Ferien des Sohrab Shahid Saless“ kann ein erster Schritt sein, diesen „großen Unbekannten“ bekannt zu machen.♦

Die langen Ferien des Sohrab Shahid Saless“, Behrang Samsami, Exil Verlag Frankfurt, 2023. mit zahlreichen Abbildungen.

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