Buchrezension: Iran vor dem Umbruch – warum Europa jetzt klare Kante zeigen muss

Zum Jahreswechsel 2024/2025 steht das iranische Regime mit dem Rücken zur Wand. Seit 2017 läuft im Inland ein revolutionärer Prozess, der auf einen Systemwechsel zielt, und zuletzt hat Teheran im Konflikt mit Israel einen Großteil seiner außenpolitischen Macht eingebüßt. Ein echter Wandel scheint greifbar – hängt aber auch von der Haltung des Westens ab. Weshalb das so ist, analysiert der Politikwissenschaftler Ali Fathollah-Nejad in seinem Buch „Iran. Wie der Westen seine Werte und Interessen verrät“.

Von Gerrit Wustmann


„Eine Kehrtwende in der Iranpolitik würde Europa in den Augen Teherans als einen Akteur erscheinen lassen, der seine vorhandenen Machtmittel durchaus einzusetzen weiß und somit auch ernst zu nehmen ist. Bislang herrscht in Teheran allerdings die Gewissheit, dass Europa nur an einer ‚autoritären Stabilität‘ und einem bequemen Weiter-So gelegen ist, um seine kurzfristigen wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Interessen zu wahren“, schreibt Ali Fathollah-Nejad in seiner ausführlichen Analyse zur aktuellen Lage in Iran.

Sein Buch ist kenntnisreiches Sachbuch und fundiertes Plädoyer für einen Politikwechsel zugleich – in einer Zeit, in der zum ersten Mal seit der Islamischen Revolution im Jahr 1979 ein echter Wandel in Iran greifbar nah erscheint. Denn trotz aller großspurigen Propaganda ist das Regime in Teheran so angeschlagen und zerrüttet wie nie zuvor.

Ein zerrüttetes System: die wachsende Wut der Bevölkerung

Der Politikwissenschaftler und Gründer des Center for Middle East and Global Order (CMEG), der als Kind zur Zeit des Iran-Irak-Krieges in Iran aufwuchs, beginnt mit den ganz nüchternen Fakten: mit den Auswirkungen von Inflation auf das Leben der Durchschnittsiraner:innen, die immer größere existenzielle Probleme haben; mit der damit einhergehenden gesellschaftlichen Spaltung, weil eine kleine, meist regimenahe Gruppe von Unternehmen und Superreichen das Land ausplündert, während die Kosten für Miete, Lebensmittel, Sprit und andere unverzichtbare Dinge explodiert sind.

Das hat dazu geführt, dass inzwischen nicht mehr nur die junge gebildete Mittelschicht gegen das Regime demonstriert, sondern auch große Teile der einfachen Arbeiter, die sich von der herrschenden Politik nicht mehr vertreten sehen. Der rechte Populismus der Politik verfängt bei ihnen nicht mehr. Umfragen und auch regimeinterne Analysen zeichnen ein klares Bild: Siebzig bis neunzig Prozent der Iranerinnen und Iraner lehnen das System der Islamischen Republik ab und/oder sympathisieren mit den Protestbewegungen der letzten Jahre wie der „Frau, Leben, Freiheit“-Bewegung nach der Ermordung der jungen Kurdin Jina Mahsa Amini durch Regimekräfte im September 2022.

Von Reformillusionen zur Systemkritik

Wollten Protestbewegungen in den Jahrzehnten davor oft noch einen Wandel hin zu mehr Öffnung innerhalb des bestehenden Systems erreichen, richtet sich die Wut der Menschen inzwischen gegen das System an sich. Zu oft haben sie gesehen, dass „Reformer“ im Parlament und Präsidentenamt entweder machtlos sind, weil alle Versuche echter Öffnung vom Wächterrat kassiert werden, oder selbst dem System nahe stehen und den Begriff „Reformer“ nur vor sich her tragen, ohne damit wirklich einen Politikwechsel zu verkörpern.

Europas Verklärung iranischer Politik

Im Westen, in Europa, in Deutschland, so Fathollah-Nejad, sei das allerdings noch nicht angekommen. Auch der neue Präsident Pezeshkian, schreibt er, werde in Politik und Medien als Hoffnungsträger glorifiziert oder missinterpretiert, obwohl von ihm kein Wandel zu erwarten sei: „Ziel ist es, die Annäherung an und den Handel mit Despoten reinzuwaschen – anderenfalls bestünde die Gefahr, dass ein schlechtes Licht auf uns geworfen und der Großmut des Westens beschmutzt wird.“

Der bröckelnde Einfluss Teherans im Ausland

© Nassim Rad / Aufbau-Verlag

Dabei stehen der greise Revolutionsführer Ali Khamenei und sein Machtzirkel längst nicht mehr nur innenpolitisch unter Druck. Israel ist es in den vergangenen Monaten gelungen, die Hamas in Gaza und die Hisbollah im Libanon empfindlich zu treffen, ihre mit dem Regime in Teheran verbündeten Führungsfiguren auszuschalten (zum Teil offenbar durch Infiltrierung der Revolutionsgarden durch den Mossad) und als Reaktion auf die Raketenangriffe aus Iran die dortige Luftverteidigung sowie mehrere Waffenfabriken teils zu zerstören – was vom Regime und der staatlichen Presse stets heruntergespielt wurde. Dass Teheran darauf nur sehr leise bis ausweichend reagiert hat, führt Fathollah-Nejad zu der Schlussfolgerung, dass „der Kaiser ohne Kleider dasteht“, all die Propaganda der iranischen militärischen Stärke sich als Luftnummer erweise.

Weil es im Inland unter massivem Druck steht, außenpolitisch seine engsten Verbündeten und seine Möglichkeiten, in Nachbarländern für Instabilität und Drohkulisse zu sorgen, verloren hat und mit Syrien ein weiterer enger Verbündeter verloren ist, versucht das Regime nun offenbar, weiteren militärischen Konflikten auszuweichen, und setzt, auch mit Hilfe des Pseudo-Reformers Pezeshkian, auf eine Erneuerung des Austauschs mit der EU. Und das sicher auch deshalb, weil die EU und Deutschland zu den Menschenrechtsverletzungen der letzten Jahre entweder geschwiegen oder mit wachsweichen Lippenbekenntnissen reagiert haben. Von der groß angekündigten „feministischen Außenpolitik“ war nichts zu sehen, im Gegenteil.

Ein Appell an die europäische Außenpolitik

Genau an diesem Punkt legt Fathollah-Nejad den Finger in die Wunde der europäischen wie der deutschen Außenpolitik und plädiert für eine Demonstration von Härte, anstatt wieder und wieder über das von Teheran zur Sanktionslockerung gehaltene Atom-Stöckchen zu springen. Ein Ende des Regimes, zeigt er, ist heute realistischer denn je, und Iran hat das Potential auf einen echten demokratischen Wandel, der zum „Dominoeffekt“ in der Region werden könnte. Es gelte folglich, in den nächsten Jahren zivilgesellschaftliche Akteure zu unterstützen, anstatt dem Regime wieder und wieder die Hand zu reichen. Denn, so zieht Fathollah-Nejad die Linie zur fehlgeleiteten deutschen Russlandpolitik, dass es nie lange gutgehen kann, aus wirtschaftlichen und geostrategischen Erwägungen die Augen vor den Missständen in despotischen Regimen zu verschließen, habe der russische Überfall auf die Ukraine mehr als deutlich gezeigt.

Wer verstehen möchte, wie Iran heute innen- wie außenpolitisch und ökonomisch dasteht, welche gesellschaftlichen Konflikte brodeln und wie die nächste Zukunft aussehen könnte, kommt um dieses Buch nicht herum. Ali Fathollah-Nejad hat mehr Einblick und Verständnis für die inneren Mechanismen des Landes und sein Verhältnis zum Westen und seinen Nachbarstaaten als die allermeisten westlichen Journalisten und Experten und sollte die Stimme sein, auf deren Einschätzung man hört, wenn es um Iran geht. Und für das deutsche Auswärtige Amt ist der Text ohnehin eine Pflichtlektüre.

Iran – Wie der Westen seine Werte und Interessen verrät
Ali Fathollah-Nejad
Aufbau-Verlag