„Wir haben keine Schuld zu begleichen“

Gezwungen zu lügen

Das Narrativ der Rechten, die ganze Welt wolle nach Europa kommen, ist ein Propagandamärchen von Misanthropen. Es wäre problemlos möglich, die Menschen aufzunehmen. Stattdessen tut man alles, um sie fernzuhalten. Und jene, die ankommen, schickt man in den Wartesaal. Nur wer eine funktionierende Geschichte erzählen kann hat eventuell eine Chance auf dauerhaftes Asyl, also auf eine Zukunft.

Und welche Geschichte gerade akzeptiert wird – das ändert sich ständig und hat mit den Realitäten in den Herkunftsländern wenig zu tun. Deshalb denken viele sich Fluchtgeschichten aus. Nicht weil sie lügen wollen. Sondern weil sie dazu gezwungen sind. Weil es ihre einzige Option ist. Weil Bürokraten über ihr Schicksal entscheiden, die sich für die Wahrheit gar nicht interessieren, und bei denen eine möglichst hohe Ablehnungsquote ein Wettbewerb ist.

Und diese Bürokraten und viele Bürger der EU erwarten dann noch Dankbarkeit von jenen, die sie am Ende tatsächlich aufnehmen. Dina Nayeri stellt klar: „Wir müssen unserem Gastland nicht dankbar sein. Wir haben keine Schuld zu begleichen.“

Dina Nayeri defines the word refuge: 

Doppelmoral des Westens

Den Status quo, Geflüchtete nach ihrem ökonomischen Nutzen für das Gastland auszuwählen entlarvt sie als finstersten, menschenverachtenden Zynismus. Das gnadenlose Ausspielen einer Machtposition wird als ‚Hilfe‘ gelabeled. Und: „Noch empörender ist der Begriff ‚Wirtschaftsflüchtling‘, eine Lüge, die von den Privilegierten ersonnen wurde, um leidende Fremde zu beschämen, die sich nach einem menschenwürdigen Leben sehnen. Hätten die Kinder der Privilegierten derartige Wünsche, würden sie es als ‚Motivation‘ und ‚Unternehmergeist‘ bezeichnen.“ Mit der Doppelmoral des Westens geht Nayeri schonungslos ins Gericht, und das ist gut so.

Denn am Umgang mit Schutzsuchenden zeigt sich, was all die moralischen Beteuerungen und das Gerede von den Menschenrechten wert sind. Nayeri ist sich dessen an jedem Tag ihres Lebens bewusst, das geht auch aus den langen Passagen hervor, in denen sie beschreibt, wie sie immer wieder von Selbstzweifeln zerrissen wird, wie sie rast- und ruhelos nach Neuanfängen sucht, weil sie das Gefühl des Ankommens und des Vertrauens nicht kennengelernt hat als Kind.

Glück gehabt

Sie weiß, dass sie die Frau sein könnte, die vor Krieg geflüchtet ist und unterwegs mehrfach vergewaltigt wurde, nur um von einem Krawattenträger in einem Amt als Lügnerin bezichtigt zu werden, weil es sie es nicht schafft, ihr traumatisches Erlebnis in allen Details zu erzählen. Sie weiß, dass sie jener iranische Flüchtling sein könnte, der sich nach zehn Jahren im Niemandsland der Nichtanerkennung öffentlich selbst verbrannt hat. Sie versteht die Verzweiflung, die nötig ist, um so einen Schritt zu gehen. Die absolute Hoffnungslosigkeit. Sie weiß, dass sie viel Glück gehabt hat. Und sie weiß, dass ihren Leserinnen und Lesern im Westen in der Regel nicht ansatzweise klar ist, was Flucht eigentlich bedeutet. Was es mit einem Menschen macht, alles aufzugeben und ganz neu anzufangen – sofern es einem gestattet wird.

Nein, es gibt wirklich keinen Grund für Geflüchtete, sich ihrem Gastland gegenüber dankbar zu zeigen. Viel eher sollte das Gastland jenen Menschen dankbar sein, die es aus diesem Wahnsinn der Willkür hinaus schaffen und dann tatsächlich bereit sind, zu bleiben und ihrerseits zu geben.

Gerrit Wustmann

© Qantara

Dina Nayeri: „Der undankbare Flüchtling“, Verlag Klein & Aber, Aus dem Englischen von Yamin von Rauch, 400 Seiten, ISBN: 978-3-0369-5822-4

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