Ein Frauenschicksal – Annäherung an die Theologin und Feministin Sedigheh Vasmaghi
Von Ali Sadrzadeh
Ist sie wirklich so gefährlich? Die Szene ihrer Verhaftung sagt darüber einiges aus.
Es ist der 15. März 2024, kurz vor Sonnenaufgang. Vier bewaffnete Geheimdienstler verschaffen sich unbemerkt Zugang zu dem Appartement, in dem sich die „Gefahrenquelle“ befindet. Wieder einmal eine nächtliche Polizeiaktion mit Überraschungseffekt; eine bekannte, tausendfach praktizierte und deshalb bewährte Methode. Die zum Teil maskierten Männer werden an diesem Tag von einer ebenfalls bewaffneten Kollegin begleitet. Denn sie wollen eine Frau dingfest machen: eine 61-jährige, fast blinde Theologin. Nach dem üblichen Geschrei fesseln sie ihr „Objekt“ und sammeln akribisch ihre persönlichen Sachen ein, einer von ihnen nimmt auch ihren Gehstock mit.
Über die Gefährlichkeit der verhafteten Person besteht kein Zweifel. Sie ist ein ganz besonderes Sinnbild des Widerstands im Iran, fordert das System aus seinem tiefsten Inneren heraus aus. Mit dem, was sie tut und wie sie es tut, hat sie es geschafft, eine sehr respektable Persönlichkeit zu werden, über viele Grenzen hinweg. Und das ist wahrlich sehr gefährlich.
Sie verkörpert einen Epochenbeginn
Die aufwühlende Biographie von Sedigheh Vasmaghi birgt viele Geschichten in sich. Nicht nur die der Islamischen Republik oder jene von Ali Khamenei samt seinem Aufstieg und Niedergang. Diese zierliche Frau offenbart in ihrem Werdegang nichts weniger als etwas Epochemachendes.
Was Frau Vasmaghi tut und vor allem, wie sie es tut – das ist ein markanter Wendepunkt in der der Geschichte des Schiitentums. Generationen von Orientalisten und Islamwissenschaftlern werden sich mit dieser Frau und ihren Thesen befassen müssen, wenn sie etwas über ‚die Frau im Islam‘ schreiben wollen. Sie habe längst das Ende jener Rechtslehre eingeläutet, die jahrhundertelang von Turbanträgern gedacht, verordnet und oft gewaltsam durchgesetzt wurde. Frau Vasmaghi sei ein Phänomen, mit ihr gehe die uns bekannte Geschichte des schiitischen Klerus zu Ende – man könne sie so gesehen auch als auch ein Jahrtausendphänomen bezeichnen.
Diese Sätze liest man im Internetportal Zeitoon, der Webseite der schiitischen Neudenker. Theologieprofessoren und Ayatollahs gehören ebenso zu den ständigen Autoren der Seite wie viele Journalisten, die aus dem Iran und vor allem aus schiitischen Seminaren berichten.
„Wir haben mit den Männern Probleme“: Das ist die Überschrift von Vasmaghis letztem Interview mit Zeitoon.
Im Bann der Revolution
Sedigheh Vasmaghi machte gerade ihr Abitur, als 1979 die Islamischen Republik das Licht der Welt erblickt. Wie viele Gleichaltrige ist sie von der Revolution begeistert. Noch läuft sie ohne Kopftuch und mit Minirock durch die Welt; Bilder aus dieser Zeit sind im Internet verewigt. Doch die Revolution schlägt sie so heftig in ihren Bann, dass sie trotz sehr guten Noten nicht zur Uni, sondern zu schiitischen Frauenseminaren geht.
Ayatollah Khomeini, der Gründer der „Republik“, hatte sich wiederholt für das gesellschaftliche Engagement von Frauen ausgesprochen – in einer religiösen Öffentlichkeit, versteht sich. Selbst das ist für viele Geistliche ein großer Tabubruch, doch es diente der neuen Macht so sehr, dass niemand zu widersprechen wagte.
Theologin und islamische Jurisprudenz
Sedigheh weilt drei Jahre unter den Mullahs und studiert islamische Jurisprudenz (فقه). Die Abiturientin mit Bestnoten hat von Anfang an in den schiitischen Seminaren eine besondere Stellung. Danach geht sie zur Teheraner Universität und wird dort nicht nur eine akademische Theologin, sondern auch eine Forscherin im universitären Sinne. Ihre Vorlesungen sind Ereignisse und große Aufregung gibt es fast immer auch dann, wenn ein Beitrag oder ein Gutachten von ihr veröffentlicht wird. Und Sedigheh veröffentlicht viel. Seit ihrer Gymnasialzeit schreibt sie Gedichte, Geschichten und Romane. Und als Expertin für schiitische Rechtslehre publiziert sie nun auch noch Fachbücher rund um diverse theologische Themen, natürlich hauptsächlich über Frauenrechte.
Wir befinden uns in den Anfängen der Revolution, noch hegen viele die Hoffnung, die islamische Republik ließe sich reformieren. In diesen Jahren engagiert sich auch Frau Vasmaghi in einer landesweiten Reformbewegung, die einen politischen Islam mit menschlichem Antlitz anstrebt. Mohammad Khatami, der künftige Präsident, wird zur Symbolfigur dieser Bewegung. Sedigheh ist zu dieser Zeit nicht nur Publizistin, sie engagiert sich auch politisch, lässt sich ins Teheraner Stadtparlament wählen, wird dessen Sprecherin.
Ist Politik machbar?
Fortsetzung auf Seite 2