Quarantäne und Isolationshaft

Wenn man immer ein temporeiches Leben geführt hat und gewohnt ist, rennen zu müssen, um etwas zu erreichen, etwas zu schaffen, was kann man mit der Quarantäne anfangen?

Die Gewohnheiten rauben unsere Wachsamkeit und dominieren uns. Wenn wir sie loswerden wollen, entwickeln sie sich zu einem großen Berg und stellen sich uns in den Weg. Selbst in unserem Zuhause! Nach Jahren des Rennens ist das Zuhause bleiben eine große Herausforderung. Nach jahrelanger Freiheit fällt mir das Schlafen im eigenen bequemen Bett zuhause immer noch nicht leicht – wie einst das Schlafen auf dem kalten, harten Boden der Zelle.

Ich kann mich noch gut daran erinnern: Nach meiner Freilassung schreckte ich mit dem kleinsten Schaukeln meines weichen Bettes, das durch meine eigenen Bewegungen ausgelöst wurde, auf. Ich wachte auf und spürte, wie meine verdrängten Ängste mein Bewusstsein durchströmten. Da wurde mir klar: Die Belastungen in der Isolationshaft und die Wunden an meinen Seiten sind nicht durch das Schlafen auf dem Zellenboden entstanden, sondern durch meine Gewohnheiten.

Als mein Mann und ich zum ersten Mal nach meiner Entlassung eine belebte Straße überqueren wollten, entdeckte ich in mir ein seltsames Gefühl. Ich hatte mich nicht an seinem Arm festgeklammert. In dem Moment wollte ich nur, dass wir unser Auto erreichen. Ich war nicht lange gelaufen, trotzdem war ich müde. Die Straße schien mir viel zu voll und alles zu chaotisch und laut.

Das Tempo der Menschen oder der Autos, sogar das Tempo der Gespräche brachten mich an den Rand des Wahnsinns. Ich dachte mir ständig: Warum reden die Menschen so laut und schnell?

Das Überqueren der Straßen war sehr anstrengend. Einmal bin ich einfach stehen geblieben und habe gedacht: Schon wieder muss ich eine Straße überqueren!

Mein Mann schaute mich erstaunt an und fragte, ob ich müde wäre. Ich weiß nicht, was er in dem Moment in meinem Gesicht entdeckte. Ich war vielleicht blass oder beängstigt. Er umarmte mich und brachte mich rasch zum Auto. Im Auto fühlte ich mich wie zuhause, geborgen, friedlich. Was der enge, geschlossene Innenraum eines Autos auslösen kann! Wie einst, als ich vom Verhörraum in meine kleine Zelle zurückgeführt wurde und mich wieder „sicher“ fühlen konnte.

Das Leben auf den Kopf gestellt

Noch lange nach meiner Freilassung bekam ich immer wieder Herzrasen und leichte Atemnot, wenn im Auto das Fenster geöffnet war und jemand an mir vorbei ging. Ich habe damals festgestellt, dass ich an Agoraphobie leide – genauso, wie andere unter Klaustrophobie leiden.

Das Leben kann plötzlich auf dem Kopf stehen. Plötzlich muss man in Einzelhaft, oder muss die Welt wegen eines Virus stillstehen. Flugzeuge müssen am Boden bleiben, Züge dürfen nicht mehr rollen, Autos müssen stehen bleiben. Die großen und lukrativen Börsen werden lahm, das Ölgeschäft bricht zusammen, die Weltwirtschaft leidet unter Rezession oder Inflation oder beidem. Die schönsten Städte ziehen auf einmal keine Besucher mehr an. Ja, plötzlich dürfen wir unser Zuhause nicht mehr verlassen. Erwachsene Kinder dürfen ihre Eltern nicht mehr besuchen. Viele leiden unter Einsamkeit und viele unter dem gemeinsamen Leben auf engstem Raum.

Was soll man, was kann man tun?

Uns stehen große Veränderungen bevor. Und wir wissen nicht, wohin diese Veränderungen führen werden. Wir wissen nicht, ob wir mit diesen Veränderungen Schritt halten oder sie sogar einleiten können. Eine Tatsache müssen wir jedoch hinnehmen: Unter den gegebenen Umständen bleibt uns kaum eine Alternative übrig, als viele Gewohnheiten und Verhaltensmuster unseres alten Lebens abzulegen und uns in unserem gesellschaftlichen Leben, in unserer Arbeit oder im Studium neue Muster anzueignen.

Die Natur ruft uns gerade zur Ruhe auf, zur Entschleunigung und zum Nachdenken über uns selbst und unsere Lieben. Sie ruft uns zum Frieden und zur Versöhnung mit uns selbst und den anderen auf. Sie richtet unseren Blick zum grünen Boden, zum blauen Himmel, zur sauberen Luft und zu klaren, fließenden Gewässern. Die Natur ruft uns gerade zu einer Neudefinition unseres Lebens auf!

  MAHVASH SABET

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