Der perfide Plan und seine Erfüllung

Im Iran wurde in der vergangenen Woche einem zehnjährigen Jungen der Schulbesuch verweigert. Ist das der berühmte umgefallene Sack Reis in China, oder anders gefragt: Kann man sich in Zeiten zerfallender Staaten und der weltweiten Völkerwanderung auch noch für diese Meldung interessieren? Doch vielleicht ist gerade sie es, die das aktuelle weltpolitische Drama widerspiegelt. Denn dahinter steckt, was die Katastrophe unserer Zeit ausmacht: religiöser Fundamentalismus, der unbarmherzig religiöse Minderheiten tilgen will.

Eine private Grundschule, die „Wiege des Wissens“ heißt und nach aufgeweckten Jungen Ausschau hält, und ein allseits beliebter und äußerst begabter Schüler namens Aref, der seine Schule zudem sehr liebt: Das ist doch sehr passend, möchte man meinen. Nicht aber in der Islamischen Republik Iran. Die „Wiege des Wissens“ in der Stadt Karadj unweit der iranischen Hauptstadt Teheran wurde in den vergangenen Tagen wegen dieses Jungen zum Ort einer existenziellen Auseinandersetzung.
Sogar die nationale Sicherheit geriet hier so massiv in Gefahr, dass sich schließlich das Büro des Revolutionsführers Ayatollah Khamenei selbst einschalten und die Entscheidung treffen musste. Am Montag sprach Khamenei das letzte Wort in der Angelegenheit: Der zehn Jahre alte Aref darf nicht in die Schule gehen. Am 21. September hat im Iran das neue Schuljahr begonnen. Und die „Wiege des Wissens“ ist bereits die dritte Schule, die dem Jungen seither die Tür gewiesen hat. Die Begründung: Arefs Eltern sind Baha’i.

Das unreine Geld

Wenn man Arefs Vater richtig zuhört, wenn er von seinem mühsamen, zermürbenden und schließlich vergeblichen Kampf erzählt, seinen Sohn an einer Schule anzumelden, dann begreift man, für wie ernst die Gefahr gehalten wird, die von Aref und seinesgleichen ausgeht. Der Vater selbst musste vor Jahren wegen seiner Religion die Universität verlassen, „und jedesmal, wenn Aref mich fragt, warum er nicht in die Schule gehen darf, tröste ich ihn mit meiner eigenen Erfahrung“, sagt er.
Wie Arefs Rauswurf aus der „Wiege des Wissens“ beschlossen wurde, ist sehr aufschlussreich. „Wir zahlten eine Million Tuman (etwa 300 Euro) Schulgebühr, das Schulsekretariat schrieb Aref ein, er ging in seine Klasse und ich nach Hause“, erzählt der Vater. Doch schon am nächsten Tag ist der Friede vorbei. Die Schulleiterin ruft den Vater an und verlangt, das Kind müsse die Schule unverzüglich verlassen, das Sekretariat hätte seine Anmeldung nicht akzeptieren dürfen, denn: Das Geld der Baha’i sei unrein. Der Vater präsentiert der Schule zwei Fatwas – religiöse Gutachten – von anerkannten Ayatollahs aus der heiligen Stadt Qom, in denen diese erklären, dass Geld, solange es nicht illegal erworben wurde, rein sei. Der Streit um die Sauberkeit des Geldes eskaliert, schließlich ruft man das Büro Khameneis an. Der urteilt, das Geld der Baha’i sei sogar „dreifach unrein“, erzählt Arefs Vater, der sein Kind nun selbst unterrichten will.

Verelenden, bis sie getilgt sind

Außenstehende mögen sich ob der Fülle und Bedeutung der Themen wundern, über die der mächtigste Mann des Iran entscheiden muss: Als ob der Schulbesuch Arefs ebenso bedeutend sei wie etwa das Atomprogramm, die Kriege in Syrien und Jemen oder gar die Beziehung des Iran zu den USA. Doch hinter Khameneis Entscheidung steht ein perfider Plan, den sein Büro schon vor mehr als 20 Jahren allen Behörden zukommen ließ.
1993 veröffentlichte der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen ein Geheimpapier des Obersten Kulturrates des Iran aus dem Jahr 1991. Das Memorandum war in Khameneis Büro von Vertretern aller staatlichen Organe beschlossen und von Mohammadi Golpayegani, dem Kabinettschef des Revolutionsführers, allen staatlichen Institutionen des Landes mitgeteilt worden: ein durchdachtes Programm für die Vernichtung einer ganzen Minderheit durch absichtliche Verelendung. Mit beängstigender Nüchternheit legt das Papier detailliert fest, wie der Staat mit der religiösen Minderheit der Baha’i umzugehen hat: Sie sollen überall so behandelt werden, dass ihr „Fortschritt und Entwicklung in jeder Hinsicht behindert werden“. Ungebildet und auf möglichst niedrigem Existenzniveau sollen sie leben, und die Sicherheitsorgane sollen bei der geringsten Regelübertretung einschreiten.

Sieben Mitglieder des Führungsgremiums der Bahai im Iran sitzen seit 2008 in Haft
Sieben Mitglieder des Führungsgremiums der Bahai im Iran sitzen seit 2008 in Haft

Das Memorandum war ein Kurswechsel. Denn nach der Ermordung von Hunderten, manche sagen Tausenden Baha’i zu Beginn der iranischen Revolution waren die internationalen Proteste dagegen so wirksam, dass dieser Kurs der physischen Vernichtung der Religionsgruppe nicht mehr durchzuhalten war. Also beschloss man einen langfristigen Plan: Baha’i sollten aus allen staatlichen Institutionen entfernt werden, keine Schule oder Hochschule darf sie aufnehmen, die Behörden haben stets darauf zu achten, dass kein Baha’i irgendwo im Lande wirtschaftliches oder gesellschaftliches Ansehen erlangt.
Die Diskriminierung aller ihrer Minderheiten ist für die islamische Republik quasi konstitutiv. Sie ist in der Verfassung des Landes ausdrücklich festgelegt. Doch bei keiner Minorität ist die Entwürdigung und Erniedrigung so umfassend wie bei den Baha’i. Sunniten, Juden, Armenier, Assyrer und Zarathustrier, sie alle dürfen eigene Abgeordnete für das Parlament wählen – allerdings Abgeordnete, die zuvor von dem staatlichen Organ „Wächterrat“ zugelassen worden sind. Nicht aber die Baha’i. Der Staat kann nicht einmal ihre Existenz anerkennen, denn dies käme einer Negierung all dessen gleich, was die Islamische Republik ausmacht – obwohl oder gerade weil die Baha’i-Religion eine durch und durch iranische Konfession und aus dem Schiitentum hervorgegangen ist. Mag sie sich inzwischen zu einer der akzeptierten Weltreligionen entwickelt haben, ist und bleibt sie für den schiitischen Klerus eine „irregeführte zionistische Sekte“.

Hass gegen den verlorenen Sohn

Die tödliche Feindschaft der schiitischen Geistlichkeit gegenüber den Baha’i ist die eines zornigen Vaters gegen einen rebellischen Sohn, der die ganze Familie – die des Klerus – zerstören will. Denn der Gründer der Baha’i- Bewegung, Sayyid Ali Muhammad, war selbst Geistlicher, ein verlorener Sohn mit außerordentlichen Begabungen. Der gutaussehende Mullah war gerade mal 25 Jahre alt, als er alle anderen Ayatollahs praktisch für überflüssig und schädlich erklärte. Mutig und kampfbereit, rhetorisch versiert, gebildet und zugleich verständlich für jedermann, erhob er vor 170 Jahren den Anspruch, ein Gesandter Gottes zu sein. In der südiranischen Stadt Schiraz nannte er sich „Bab“, zu deutsch „Tor“. Diesen Titel, einen schiitisch-eschatologischen Begriff, wählte er sehr bewusst, denn damit machte der junge Mann sich selbst zum „Tor zu Gott“. Und wenn das Tor offen, der „Bab“ tatsächlich da ist, dann ist mit ihm auch der Erwartete erschienen: Das Warten hat ein Ende. Und wenn der Messias oder, wie die Schiiten sagen, der „Mehdi“, der seit 1.200 Jahren im Verborgenen lebt, endlich auf Erden ist, dann braucht man keine Mullahs mehr. Denn die Ayatollahs verstehen sich als Statthalter des verborgenen Imam, auf den man noch zu warten hat.

„Iranischer Luther“?

Der „Bab“ endete damals am Galgen, doch seine Lehre konnte damit nicht ausgelöscht werden. Im Gegenteil: Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die neue Religion im ganzen Iran. Diese schnelle Ausbreitung der Baha’i-Ideen ist bis heute ein Rätsel der Geschichte geblieben. Wie konnte sich Mitte des achtzehnten Jahrhunderts eine neue Religion in einer relativ kurzen Zeit in entlegenen Städten und Dörfern ausbreiten, und das im Iran, einem Land ohne jegliche öffentliche Kommunikationsmittel?
Erklärungen gibt es zuhauf. Als erste gerieten die Zirkel und Zentren der schiitischen Gelehrsamkeit in den heiligen Städten Qom und Machad in Unruhe. Es waren zunächst ausschließlich Religionsschüler, die von dem neuen geistigen „Virus“ infiziert wurden. Ob die schnelle Verbreitung der neuen Religion allein der Fähigkeit des jungen Mullahs aus Schiraz zu verdanken war oder der Abneigung gegen seine etablierten Kollegen, mag weiterhin strittig bleiben. Doch die Baha’i waren auch für Laien interessant. Ihre Lehre hatte mit der modernen Welt zu tun, die manche Städter vom Hörensagen aus Europa kannten. Die Baha’i verwarfen so ziemlich alles, was die islamische Rechtslehre bis dahin als unumstößlich betrachtet hatte: nicht nur Grundsätze des schiitischen Glaubens, sondern auch Alltägliches wie Kleidervorschriften, Fasten, Beten und einiges mehr.
Es sind diese neuen Gedanken, deretwegen manche Historiker meinen, die Baha’i seien die Lutheraner des Schiitentums. Eine fragwürdige Einschätzung, denn die Bahai-Religion ist auch 170 Jahre nach ihrer Entstehung immer noch eine sehr missionarische Gemeinde, ähnlich den Zeugen Jehovas. Trotzdem gibt es unter Historikern kaum Streit darüber, dass die Bahai-Ideen den zaghaften Beginn jener Moderne darstellen, die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts vorsichtig im Iran Einzug hielt – und die am Ende des Jahrhunderts zur Verfassungsrevolution führte.
Doch wie auch immer: Eine Moderne, die aus dem Ausland „einsickert“, kann die Islamische Republik als Fremdling bekämpfen oder sich mit ihr arrangieren. Doch eine Moderne, die inmitten der schiitischen Gelehrsamkeit entsteht, ist gefährlich. Entweder Baha’i oder Ayatollahs, beide können in einem schiitischen Staat nicht offiziell nebeneinander existieren: Die Existenz des Einen ist die Negation des Anderen.

Nachdenken der islamischen Reformer

Mohammad Nourizad küsst einem Baha'i-Jungen die Füsse, dessen Vater wegen seiner Religionszugehörigkeit im Gefängnis ist.
Mohammad Nourizad küsst einem Baha’i-Jungen die Füsse, dessen Vater wegen seiner Religionszugehörigkeit im Gefängnis ist.

Wie viele Baha’i im Iran leben, weiß niemand genau. Geschätzt wird ihre Zahl auf drei- bis vierhunderttausend. Doch leben sie keineswegs marginalisiert oder verelendet, wie es der Plan der Mächtigen einst vorsah. Im Gegenteil, sie wissen sich zu helfen. Wenige Jahre nach der Revolution gründeten sie das „Bahá‘í Institute of Higher Education“, eine Art Fernuniversität für alle von Bildung Ausgeschlossenen: ein „hoch entwickelter Akt gemeinschaftlicher Selbsterhaltung“, lobte 1987 die New York Times. Doch im Sommer 2011 erklärte die damalige iranische Regierung das Institut für illegal. Alle Betreiber des Universitätsportals wurden festgenommen und zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt.
Eine völlige Verdrängung der Baha’i aus dem öffentlichen Leben oder gar aus dem Land ist der Islamischen Republik trotzdem nicht gelungen. Denn die Mitglieder der Religionsgemeinschaft sind beharrlich, missionarisch und bezeichnen sich als echte Patrioten. Bis vor kurzem setzten sich weder islamische Reformer noch Linke, Nationalisten oder gar Laizisten für die Baha’i ein. Eine religiöse Gruppe, die sich nach eigenem Bekunden für Politik nicht interessiert, obwohl sie selbst das markanteste Opfer der politischen Macht ist: Vielleicht rührte daher die Indifferenz der Oppositionsgruppen gegenüber den Baha’i.
Doch seit einiger Zeit findet ein Umdenken statt: Inzwischen gibt es sogar anerkannte Ayatollahs, die sich für die Rechte der Baha’i einsetzen, und auch bei anderen Oppositionsgruppen bricht das Eis. Wolle man Bürgerrechte glaubwürdig verteidigen, dann könne man gegenüber dem Schicksal der Baha’i nicht gleichgültig sein, ist in den vergangenen Monaten häufig auf den Webseiten der Opposition zu lesen. Dieses Umdenken verdankt man nicht zuletzt den Berichten vieler prominenter Gefangener, die kaum mit den Baha’i zu tun haben. In ihren Briefen aus dem Gefängnis oder Berichten nach ihrer Entlassung bekunden sie, man müsse die Rechte der Baha’i verteidigen, um als Verfechter der Zivilgesellschaft glaubwürdig zu sein. Ahmad Amui, ein bekannter Journalist, der 2008 nach der umstrittenen Wahl Mahmud Ahmadinedschads zu fünf Jahren Haft verurteilt wurde, sagte nach seiner Entlassung der Webseite Rooz, man müsse über die Baha’i „umdenken“ und sich „mit ganzer Kraft für ihre Rechte einsetzen“. Amui berichtete über tragische Schicksale der mitgefangenen Baha’i in seiner Zelle, die er als „freundlich, beharrlich und patriotisch“ bezeichnete.
Und ein anderer bekannter Oppositioneller, der Journalist Mohammad Nurizad, einst ein glühender Anhänger Khameneis, ging sogar noch weiter. Er besuchte einen kleinen Baha’i-Jungen, dessen Vater im Gefängnis ist, und küsste demonstrativ die Füße des Knaben. Das Bild davon stellte er ins Internet – und richtete damit eine Frage an die Ayatollahs, nämlich, was islamisch unreiner sei: die Füße dieses Jungen oder die Reichtümer, die mancher Geistliche in den vergangenen Jahren angehäuft hat.

  ALI SADRZADEH

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Quellen: roozonline.com/persian/news/newsitem/article/-fc77f199d3.html, denial.Baha’i.de, 
roozonline.com/persian/news/newsitem2/article/-7cd333ebe6.html, nurizad.info/blog/29593,
nurizad.info/blog/29604