Es gibt kein Böses. Oder?
Am Samstag erhielt der iranische Regisseur Mohammad Rasoulof für seinen Film „Es gibt kein Böses“ den Goldenen Bären bei der 70. Berlinale. Der Film habe viel mit eigenen Erlebnissen zu tun, sagt der Regisseur. Zur Preisverleihung durfte er nicht ausreisen.
Von Nasrin Bassiri
Regisseur Mohammad Rasoulof fesselt in „Es gibt kein Böses“ die Zuschauer*innen 150 Minuten lang mit vier Episoden: Lebensgeschichten und Situationen, die in dem Film gebündelt werden. Die Protagonist*innen eint, dass sie alle in autoritären Systemen leben, in denen die Mächtigen definieren, was Recht und was Unrecht ist; die Bevölkerung hat die Wahl, Ja zu sagen und die Befehle zu befolgen oder den Mut aufzubringen, Nein zu sagen und alles zu riskieren, was ihr lieb und teuer ist.
Gut und böse, liegt das nicht nah beieinander? Das ist die Frage, die Rasoulofs Film stellt: Haben Menschen in autoritären Systemen tatsächlich die Chance, Nein zu sagen? Und wer unter massivem Druck Ja sagt, ist der tatsächlich böse? Wie und warum entscheiden sich Menschen, Ja oder Nein zu sagen? Können autoritäre Systeme überleben, wenn die Ja-Sager schwinden und die Nein-Sager die Oberhand gewinnen? Das sind die Fäden, die die Episoden des Films miteinander verbinden.
In der ersten Episode sehen wir Heshmat, einen gutmütigen Mann mit leerem Blick, leicht depressiv und übergewichtig. Er ist Mitte Vierzig ein fürsorglicher Sohn seiner kranken Mutter, ein wundervoller Vater für seine Tochter, ein liebevoller Ehemann, der die Haare seiner Frau eigenhändig färbt. Seine Frau, eine Lehrerin, und die Tochter holt er jeden Tag von der Schule ab und ist bemüht, alle ihre Wünsche zu erfüllen. Jeden Monat holt seine Frau sein Gehalt von der Bank, sie regelt die Finanzen.
Glücklich scheint Heshmat aber nicht zu sein. Seine Frau wirft ihm vor, trotz Nachtschichten zu wenig Geld nach Hause zu bringen, und stachelt ihn an, sich mehr für seine Rechte einzusetzen. Morgens um 3 Uhr steht er auf und macht sich auf den Weg zu seiner Arbeitsstelle, ein schmuddeliges Gelände, umgeben von hohen Mauern. Der unheimliche Ort ist ein Gefängnis, erfährt der Zuschauer in einer beeindruckenden Szene, Heshmat vollstreckt dort Todesurteile, vollautomatisch: zu sehen sind eine Reihe Beine mit Hausschuhen, die sich unruhig bewegen, bevor sie ganz stille halten. Heshmat ist ein Ja-Sager, der Pillen gegen seine Depression schluckt, die ihn doch nicht beruhigen können.
Ein „Muttersöhnchen“
In der zweiten Episode liegen in einem engen Schlafraum Soldaten dicht beieinander. Ein junger Soldat ist unruhig. Bei Sonnenaufgang soll er ein Todesurteil vollstrecken – zum ersten Mal. Die Vorstellung, den Hocker unter den Füßen des Verurteilten wegzuziehen, ist ihm unerträglich. Die Zimmergenossen lachen ihn aus, er sei nicht reif genug, ein Muttersöhnchen. Sie schlagen ihm vor, einem Kameraden eine recht hohe Geldsumme zu zahlen, dessen Schwester operiert werden muss. Dann werde dieser für ihn einspringen. Einer der Soldaten ist jedoch gegen den Vorschlag: Es sei noch schlimmer, jemand anderen zu bezahlen, um sein Gewissen freizukaufen.
Der Soldat entscheidet sich mithilfe seiner Freundin, die er um Rat gefragt hat, für eine dritte Lösung: Er befreit den Gefangenen und fesselt statt dessen den Wachposten, der diesen zum Ort der Hinrichtung begleitet hat. Dann überwältigt er alle, die ihm den Weg zum Ausgang versperren. Dort wartet seine Freundin mit einem Auto auf ihn. Sie fahren Richtung Teheran, wo der Soldat seine Freundin kurz vorher anhalten lässt, um seine Waffe in einer tiefen Grube verschwinden zu lassen.
Kein „Muttersöhnchen“
Fortsetzung auf Seite 2