„Sexueller Putsch“ im Gottesstaat

Die Mehrheit der über alle Kontinente verteilten Exil-IranerInnen hat den Iran im Zuge der „Säuberungsaktionen“ des islamischen Regimes in den 1980er Jahren verlassen, um der damaligen Hinrichtungswelle zu entkommen. Sie gehörten entweder der linken Opposition an, zu der auch die Volksmujaheddin gezählt wurden, oder waren Angehörige der Aristokratie.
Die Linke sah (und sieht) sich als Vertreterin der Arbeiter und Bauern und ordnete dabei Emanzipation und sexuelle Aufklärung als zweitrangige Themen – Nebenwidersprüche – ein, auf die kein besonderer Wert zu legen ist. Ein Teil der Marxisten-Leninisten, besonders die bei der Jugend beliebte Organisation der Volksfedayin, war sogar sehr bemüht, die „gesellschaftliche Moral“ zu achten. GenossInnen, die sich „amoralisch“ verhielten, wurden ermahnt oder von der Organisation ausgeschlossen.
In mindestens einem Fall soll es deswegen sogar zur Hinrichtung eines Guerillakämpfers gekommen sein. Nach Angaben von Mehdi Fattapour, einem der Anführer der Volksfedayin, hatte Abdollah Panjeh-Shahi ein sexuelles Verhältnis mit einer Guerillakämpferin, mit der er in einer konspirativen Wohnung lebte. Obwohl die Liebesbeziehung auf beidseitigem Einverständnis beruhte, wurde er erschossen, die Frau schloss man aus der Organisation aus. Die Hinrichtung wurde damit begründet, dass die außereheliche Beziehung in den Augen der Bevölkerung unmoralisch sei und vom Schah-Regime gegen die Organisation ausgenutzt werden könnte.
Nach der Niederschlagung der sogenannten Grünen Bewegung 2009 verließen wieder Zehntausende den Iran, um den staatlichen Repressalien zu entkommen. Diese mehrheitlich jungen Menschen waren zwar im Vergleich zur Generation ihrer Eltern der Sexualität gegenüber aufgeschlossener, doch Studien über die Identität der Diaspora-IranerInnen belegen, dass ein Großteil der Migrierten sich nach wie vor zu den moralischen Werten der iranischen Gesellschaft bekennt und immer noch eine enge Verbindung zur einstigen Heimat hat.
So hat Judith Albrecht nach einer zweijährigen empirischen Forschungsarbeit über „soziale Konstruktion weiblicher Identitäten iranischer Frauen“ in Berlin, Teheran und Los Angeles herausgefunden, dass iranische Frauen in den USA heute noch – wie im Iran – auf die Familie „als wichtige und identitätsstiftende Größe“ verweisen. Sie schreibt: „Für die Frauen in der Diaspora und im Exil bleibt das zurückgelassene Land Iran weiterhin der primäre Orientierungspunkt des Handelns.“

Sexuelle Aufklärung: jensiat.io
Sexuelle Aufklärung: jensiat.io

„Sexueller Putsch“
Doch immerhin ein kleiner Teil der ExilantInnen verhält sich gegenüber den Moralvorstellungen der iranischen Gesellschaft kritisch und kämpft aus der Ferne für die Veränderung „der überkommenen Weltanschauung“. Diese „Querulanten“ sind über die ganze Welt verteilt und stehen miteinander auch kaum in Verbindung. Dennoch beginnen, ihre Aktivitäten zu fruchten.
Das Online-Projekt Jensiat etwa klärt anhand von Comics über Geschlechtskrankheiten auf. Und das kommt auch bei Menschen im Iran an. 2013 hat die persischsprachige Redaktion der Deutschen Welle das Thema aufgegriffen. Man habe festgestellt, dass kaum persischsprachige Angebote zur sexuellen Information und Bildung existierten, so eine Mitarbeiterin der Redaktion. Aus dieser Erkenntnis entstand das Projekt „Sexualtiät, Liebe und gemeinsames Leben“.
Andere persischsprachige Radio- und TV-Sender haben auch sich mit dem Thema beschäftigt. Der TV-Sender Manoto zum Beispiel hat einige Sendungen über Sexualität ausgestrahlt. Darin ging es unter anderem um die sexuelle Aufklärung an den Schulen im Iran. Der in London ansässige Sender gibt zu, dass auf die Moralvorstellungen der iranischen Gesellschaft Rücksicht genommen werden musste. Deshalb seien Eltern „durch die Blume“ auf die Notwendigkeit der sexuellen Aufklärung ihrer Kinder hingewiesen worden.
Es gibt auch zahlreiche Socail-Media-AktivistInnen, die sich mit sexuellen Themen auseinandersetzen. Allerdings kann man nicht feststellen, ob diese innerhalb des Iran oder vom Ausland aus agieren.
Viele ExpertInnen sind sich einig: Die effektivsten Aktivitäten zur sexuellen Aufklärung im Iran kommt von LGBT-AktivistInnen im Exil. „Das Internet und andere Kontakte zu queeren AktivistInnen und TheoretikerInnen außerhalb des Iran haben offensichtlich ermöglicht, dass gesellschaftspolitisch interessierte Menschen im Iran sich mit Zwangsheterosexualität und gleichgeschlechtlichen Lebensweisen auseinandersetzen“, sagt Saideh Saadat-Lendle, Leiterin der Berliner „LesMigraS, Antidiskriminierungs- und Antigewaltbereich der Lesbenberatung“.
Die iranischstämmige Aktivistin setzt sich seit über 25 Jahren für Aufklärung und Unterstützung von Lesben ein. In dieser Zeit hat sie die Erfahrung gemacht, dass innerhalb der gebildeten Schichten der Gesellschaft ein Wertewandel eingetreten ist: „Die jungen Menschen der ‚Generation Internet‘, die seit 2009 den Iran verlassen, stehen dem Thema Homosexualität weit offener gegenüber als die Generationen davor.“
Jahrzehntelang versuchte das islamische Regime, den Einfluss der Diaspora-IranerInnen auf die Entwicklungen im Iran zu ignorieren. Doch seit ein paar Jahren beschweren sich die Verantwortlichen im islamischen Gottesstaat und ihre Anhängerschaft über deren Einfluss, besonders in Bezug auf sexuelle Aufklärung. Während die einen die „aus Amerika“ importierte „sexuelle Revolution“ anprangern und vor einem „sexuellen Putsch“ warnen, setzen sich gemäßigtere Kräfte für das Verständnis der „natürlichen Gelüste“ der Jugend ein. Beide Gruppen sehen die AuslandsiranerInnen als Verursacher der „schleichenden Veränderung der Sexualethik“ an und verlangen nach geeigneten Lösungen seitens der Verantwortlichen.
 SHAHRZAD OSTERERFARHAD PAYAR
Persischsprchige Quellen:
„Sexueller Putsch“ , Yadollah Royaies Hompage , „Sexualtiät, Liebe und gemeinsames Leben“ , youtube.com/watch?v=4k-b1NPOMfg , Interview mit Fatta-Pour , Manoto-Sendung , Jensiat
Auch diese Artikel können Sie interessieren:
„Das abendländische Morgenland“
„Spotlight“ auf islamisch: Sexueller Missbrauch im Iran