Der Fahrplan der Gewalt

Sie haben sich aus der ersten Reihe zurückgezogen, ihre demonstrative Zurückhaltung lässt aber aufhorchen. Die iranischen Revolutionsgarden überlassen die Niederschlagung der Unruhen augenfällig und absichtlich anderen Sicherheitskräften. Dem Publikum geben sie sich als heroische Armee, die von einem siegreichen Krieg gegen den IS auf den Schlachtfeldern des Irak und Syriens zurückkommt. Sie sind sich sicher: Ihre Zeit wird kommen. Nicht zu Unrecht. Nach den jüngsten Unruhen werden sie wichtiger und mächtiger werden.
Von Ali Sadrzadeh
Javan (Dschavan) bedeutet auf Persisch Jung. Warum die Revolutionsgarden für ihre Tageszeitung gerade diesen Namen gewählt haben, darüber ließe sich lange philosophieren. Die Blattmacher haben jedenfalls junge, engagierte und glaubensfeste Leser im Visier. Javan meidet jene oberflächliche, oft lächerliche Propaganda, die in anderen offiziellen Medien üblich ist. Man redet Tacheles, mit beängstigend trockener Sprache und schlüssigen Argumenten. Die Beiträge sind stets zielorientiert.
Der seriöse Welterklärer
Der Chefredakteur der Zeitung heißt Dr. Abdollah Ganji, ein sprachgewaltiger Welterklärer. Er geht keiner Diskussion aus dem Weg, mit wem auch immer. Oft tritt er in Universitäten auf und liefert sich politische Dispute mit unzufriedenen Studenten. Ganji gilt als Chefideologe und Vordenker der Revolutionsgarden. Und in Krisentagen lesen sich seine Leitartikel wie pragmatische Gebrauchsanweisungen, klare Anleitungen, wie die Leser die Welt sehen sollen und was in den kommenden Tagen zu tun sei. Oder besser gesagt, wie die Revolutionsgarden die Krise wirklich wahrnehmen – außerhalb jeglicher Propaganda-Sphäre – und was sie zu tun gedenken.
Am siebten Tag der landesweiten Unruhen im Iran schrieb Ganji in seiner Zeitung einen Leitartikel, der die Lage so distanziert und präzise analysiert, dass dieser Beitrag ohne weiteres in jeder seriösen Zeitung dieser Welt erscheinen könnte. Würden die Süddeutsche Zeitung, Le Monde oder die New York Times Ganjis Leitartikel ohne Autorennamen wortwörtlich übernehmen, würde keiner ihrer Leser je glauben können, dass diese Zeilen aus der Feder eines Chefideologen der iranischen Revolutionsgarden stammten.

Javan-Online redet Tacheles, mit beängstigend trockener Sprache und schlüssigen Argumenten
Javan-Online redet Tacheles, mit beängstigend trockener Sprache und schlüssigen Argumenten

 
Eine neue Erfahrung
Besonderheiten der letzten Unruhen“ lautet der Titel des Leitartikels. Ganji nummeriert diese Besonderheiten und zählt insgesamt neun.
Die Unruhen der letzten Tagen in verschiedenen Städten des Landes seien eine neue Erfahrung, von der man viel lernen könne. Die Proteste seien grundverschieden von all dem, was die Islamische Republik bisher erfahren habe – damit leitet Ganji seinen Artikel ein. Und beschreibt dann jede Besonderheit in wenigen Sätzen, verständlich und nachvollziehbar.
Das Erste und Wichtigste sei, so der Leitartikler, dass diesmal nicht die Reformer hinter den Ereignissen stünden – anderes als bei den Unruhen von 1999 und 2009. Die Protestierenden seien wahrlich unzufrieden. Sie stellten aber keine konkreten Forderungen, die man erfüllen könne, und wo keine klare Forderung sei, da gebe es auch keine klare Antwort. Das Neue bei diesen Unruhen sei zudem die Rolle der sozialen Netzwerke. Nach zuverlässigen Informationen gäben 60 Prozent der Protestierenden in Teheran und 54 Prozent in den anderen Städten an, sie seien durch das Internet über die Demonstrationen informiert und zur Teilnahme motiviert worden.
Es sage viel über die schwierigen Lebensbedingungen der Menschen aus, dass diese Unruhen nicht in der Hauptstadt oder in den Großstädten, sondern erst in der Provinz und den kleinen Städten ihren Anfang nahmen. Für die Polizei einer Kleinstadt sei es natürlich viel schwieriger, massiv und hart einzugreifen, dort kenne jeder jeden. Die Demonstranten fühlten sich allgemein erniedrigt. Mit ihrem Protest wollten sie ihre Gefühle der Ablehnung und des Ekels äußern. In vielen der Unruhegebiete herrsche Dürre und Trockenheit. Dort sehe jeder, dass aus dem einst großen Fluss, von dem das Leben aller abhing, nun nur noch ein trockenes Bett übrig geblieben sei. Und nicht zuletzt Rouhanis Haushaltsentwurf für das nächste Jahr habe zur Unzufriedenheit beigetragen.
Warum soviel Vernunft, soviel Realismus?
Fortsetzung auf Seite 2