„Unsere Gesellschaft hat zwei Gesichter“

Alle meine Fälle waren schwierig, da alle Verurteilungen ungerecht waren, aber am meisten hat mich der Fall von Herrn Sattar Beheshti getroffen. Dieser Fall hat mich sehr betroffen gemacht, sodass ich nachts davon Albträume hatte. Sattar Beheshti wurde bei einer Anhörung im Gefängnis von Beamten so zusammengeschlagen, dass er an den Folgen gestorben ist.

Was sind die wichtigsten Erkenntnisse, die Sie aus Ihrer langjährigen Arbeit als Anwältin, speziell für Frauenrechte gewonnen haben?

Die Frauenrechte wurden immer von Männern geschrieben und in keiner Religion haben die Frauen die gleichen Rechte wie Männer. Inzwischen sind die Frauen aber aufgewacht und denken nicht mehr wie vor 100 Jahren. Sie wissen, dass sie Menschen sind und die gleichen Rechte besitzen. Angefangen hat dieses Bewusstsein für Frauenrechte im Westen und wir haben davon ein bisschen Wind bekommen. Aus dem Wind ist heute in Asien und Afrika ein Sturm geworden.
Frauen sind körperlich nicht gleich wie Männer, aber sie müssen die gleichen Rechte haben, denn sie können genauso stark denken und wirtschaftliche und politische Angelegenheiten analysieren wie Männer und dürfen deswegen nicht runtergestuft werden. Heute arbeiten im Iran auch viele Frauen in der Forschung und der Wissenschaft und haben mit ihrer Arbeit etliche Preise gewonnen.

Das öffentliche Leben im Iran wird von einem strengen Sitten- und Moralkodex bestimmt und unterscheidet sich oftmals deutlich vom Privatleben der Iraner. Wie wirkt sich dieses Doppelleben auf die Persönlichkeit der Menschen aus?

Seitdem der Hidschab Pflicht geworden ist und viele normale Dinge verboten wurden, zum Beispiel im Musikbereich, hat unsere Gesellschaft zwei Gesichter.
Zu Hause im privaten Bereich sind die meisten Frauen sehr offen, aber es gibt auch eine religiöse Schicht, wo selbst zu Hause der Hidschab getragen wird. Andererseits gibt es Menschen aus verschiedenen, gesellschaftlichen Schichten, die zu Hause anders leben.

Gouhar EGouhar Eshghi vor dem Foto ihres im Gefängnis unter ungeklärten Umständen verstorbenen Sohns Sattar Beheshtishghi vor dem Foto ihres im Gefängnis verstorbenen Sohns Sattar Beheshti
Gouhar Eshghi vor dem Foto ihres im Gefängnis unter ungeklärten Umständen verstorbenen Sohns Sattar Beheshti

Einerseits wird die Rolle der Frau im Iran von der iranischen Rechtsprechung bestimmt, andererseits ist die iranische Gesellschaft bis heute patriarchalisch aufgebaut. Welche Erfahrungen haben Sie in Ihrer Arbeit als Anwältin in dieser Hinsicht gemacht?

Alle Gesetze sind zugunsten von Männern gemacht, die himmlischen und die irdischen Gesetze, deswegen haben Frauen nur einen sehr engen Spielraum. Aber weil ich als Anwältin alle Menschen als gleichwertig ansehe, fühle ich mich verpflichtet, Frauen zu verteidigen, wenn sie unterdrückt werden. Kürzlich habe ich mit anderen Anwältinnen zum Beispiel Einspruch gegen einen Gesetzesvorschlag im Familienrecht erhoben, der Männern – abhängig von ihrem wirtschaftlichen Vermögen – die Erlaubnis einräumen sollte, mehrere Frauen zu heiraten. Daraufhin wurde dieses Gesetz in dem Sinne angepasst, dass die erste Frau dem Mann ihre Erlaubnis geben muss, wenn er weitere Frauen heiraten will.

Präsident Hassan Rouhani wird in westlichen Medien als moderater Reformer beschrieben. Was hat sich für die Menschen im Iran seit seinem Amtsantritt verändert?

Es gibt keine Verbesserungen, Zulassungen im Bereich der Musik werden wieder zurückgenommen, es hat sich nicht viel verändert. Herr Rouhani hat sich mehr mit den Nuklearangelegenheiten beschäftigt als mit den inneren Angelegenheiten des Irans. Als Frauen wollen wir, dass sich der Blickwinkel von Männern ändert – unabhängig, ob sie geistlich sind oder nicht.

Was wünschen Sie sich an erster Stelle für die Menschen im Iran?

Ich wünsche mir nicht nur für Iraner alles Gute, sondern für alle Menschen, weil mein Blick von Menschenliebe geprägt ist. Wenn man unsere Literatur kennt, dann weiß man, dass wir immer über Menschen reden, unabhängig vom Glauben, Geschlecht oder Nationalität. Unser Dichter Saadi (1210 – 1292) sagt in seinem Gedicht Bani Adam: „Die Kinder von Adam sind gemeinsame Glieder, die in der Schöpfung aus derselben Perle stammen. Wenn die Tage einem Glied Schmerzen bereiten, finden andere Glieder keine ruhe.“**

*Das Interview hat Kilian Foerster im Dezember 2016 geführt und auf seiner Homepage veröffentlicht. Es hat aber bis heute nichts an Aktualität verloren.

**Freie Übersetzung des Gedichtes von Djafar Sadigh

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