Das „Leben ohne Leben“ der Frauen
In ihrer jüngsten Ausstellung in Japan zeigt die iranische Künstlerin Farzaneh Khademian ihre Bilder von Frauen, die isoliert und entfremdet wirken. Im Interview mit Qantara.de erläutert sie den Einfluss der Fotografie und ihrer neuen Wahlheimat Japan auf ihre Malerei.
Die gefeierte Fotografin und Malerin Farzaneh Khademian wanderte 2016 nach Japan aus und fand dort eine völlig andere Welt vor als in ihrem Geburtsland Iran. Khademian ist gebürtige Teheranerin. Mit sieben Jahren erlebte sie, wie sich mit dem Beginn der islamischen Revolution das Leben im Iran grundlegend veränderte. Wie andere aus ihrer Generation absolvierte sie als Fotografin zwar eine Kunsthochschule, entschied sich später aber, mit ihrer Kamera gesellschaftliche und politische Themen zu dokumentieren.
1995 begann Farzaneh Khademian mit dem Studium der Fotografie an der Azad University Art School. Unmittelbar nach ihrem Abschluss und in der Hochzeit der Reformbewegung Ende der 1990er Jahre zählte sie zu den Vorreitern unter den Fotografen, die die Studentenaufstände 1999, das Attentat auf den iranischen Reformer Said Hadscharian und viele weitere Proteste zur Unterstützung des damaligen reformorientierten Präsidenten Mohammad Khatami im Bild festhielten.
Gleichzeitig begann sie damit, das Leben der Frauen im Iran zu dokumentieren. Bekannt wurde sie unter anderem mit ihrer Fotoserie über Iranerinnen in den speziell für sie vorgesehenen Abteilen der Nahverkehrsbusse in Teheran. In einem weiteren Projekt fotografierte sie Frauen beim Sport zu einer Zeit als das noch ein Tabubruch war, denn im Iran nach der Revolution waren Frauen jegliche sportlichen Aktivitäten verboten. Für internationale Medien berichtete sie aus dem Libanon, Afghanistan und Pakistan.
Andere Formen von Diskriminierung
In ihrer neuen Wahlheimat Japan stieß Khademian auf andere Formen von Diskriminierung und Sexismus als im Iran. Gemessen an anderen Industrienationen ist in Japan die Diskriminierung von Frauen in der Praxis aber immer noch stark ausgeprägt. Für Khademian war das ein Thema, das sie gleich engagiert anging. Allerdings greift sie nicht wie früher zur Kamera, sondern hält das, was sie sieht, auf der Leinwand fest.
Ihre mittlerweile zweite Ausstellung in Japan eröffnete sie am 20. November 2021 in Tokio. Unter dem Titel „Peephole“ – deutsch „Türspion“ – zeigt sie nackte Menschen ohne Gesichter. Im Einleitungstext zu ihrer Ausstellung schreibt Khademian: „Ein Türspion ist eine kleine Öffnung in einer Tür, durch die wir von innen nach außen blicken können – so wie durch ein Kameraobjektiv. Diese Bilderreihe ist mein Versuch, meine Umgebung auf diese Weise zu betrachten.“
Qantara: Was sofort an Ihren neuesten Arbeiten ins Auge fällt, ist die offensive Darstellung von Nacktheit. Was hat Sie zu dieser starken Präsenz von Sexualität und Körperlichkeit in Ihren jüngsten Werken veranlasst?
Farzaneh Khademian: Sämtliche Werke dieser Ausstellung sind unter dem Eindruck der japanischen Kultur entstanden. In diese Bilderreihe sind keine Einflüsse aus dem Iran oder aus meinen dortigen Lebenserfahrungen eingeflossen. Betrachten Sie die abgebildeten Menschen: In den Personen werden Sie kein Leben finden. Genau so erscheint mir das Leben vieler Menschen in Japan: Ein Leben ohne Leben.
Den Figuren fehlt das Gesicht, weil ich hier im realen Leben nicht das wahre Gesicht in meinem Gegenüber erkennen kann. Ich sehe seine Gefühle oder Empfindungen nicht. Eine gewisse Distanz bleibt immer zwischen den Menschen. Auch kann ich kaum sagen, ob die Menschen in dieser Gesellschaft glücklich oder traurig sind. Sie verbergen ihre Gefühlswelt hinter einer Maske. Alle Menschen sind bisweilen glücklich oder traurig, mal müde oder voller Energie und Lebensfreude. Dass jemand seinem Gegenüber diese Gefühle zeigt, wird man in Japan aber nicht erleben.
Darüber hinaus hat die Art und Weise, wie Frauen in der japanischen Gesellschaft behandelt werden, meine Bilder beeinflusst. In Japan sind zum Beispiel lebensgroße Sex-Puppen aus Gummi gängig. Manche Menschen leben sogar mit diesen Puppen zusammen wie mit einem echten Partner. Mir kommt es in Japan bisweilen so vor, als würden Frauen wie Puppen und nicht wie Menschen mit einer Seele behandelt.
Ich habe viele Frauen kennengelernt, die finanziell betrachtet ein gutes Leben führen, denen aber die Lebendigkeit abhandengekommen ist. Ich glaube, Menschen werden wegen dieser Lebensweise unsichtbar: Niemand sieht dich wirklich. Das gilt übrigens auch für Männer. Doch in dem Maße, in dem ich in dieser Kultur meine Identität als Frau verliere, vergesse ich auch meine Weiblichkeit.
Verstehe ich Sie richtig, dass Sie dies im Iran nicht so empfunden haben, trotz der vielen Beschränkungen für Frauen?
Ja, so habe ich das im Iran nicht empfunden. Die Beschränkungen für Frauen dort sind anders. Sie entziehen dir nicht deine Persönlichkeit. Hier in Japan können die Menschen trotz der gesellschaftlichen und politischen Freiräume ihre Ansichten nicht ohne weiteres äußern. Die gesellschaftlichen und kulturellen Traditionen erlauben es Frauen nicht einmal, laut zu lachen. Man vermeidet es hier auch, über ernste Themen zu sprechen. Das halte ich für sehr gefährlich. Wer länger in dieser Atmosphäre lebt, vergisst, wie sich das Leben außerhalb dieser Blase anfühlt. Wichtige gesellschaftliche und politische Fragen sind dann kein Gesprächsthema mehr.
Ich will damit nicht sagen, dass ich in Japan größeren Beschränkungen unterliege als im Iran. So werde ich in Japan als Frau beispielsweise immer mit Respekt behandelt. Doch diese Art von Respekt ist eher der Respekt, den man mir als Kundin in einem Geschäft oder als Antragstellerin auf dem Amt entgegenbringt.
Wann haben Sie sich entschieden, nackte Menschen in den Mittelpunkt Ihrer Malerei zu stellen?
Die Serie entstand im Laufe von etwa zwei Jahren. Das war eigentlich keine bewusste Entscheidung von mir. Die Idee entstand nach und nach parallel zu meinen Erlebnissen in Japan. So habe ich beispielsweise in drei verschiedenen Galerien an Zeichensitzungen teilgenommen, als mir auffiel, dass immer nur Frauen nackt Modell gestanden haben. Ich habe dann gefragt, warum wir keine männlichen Aktmodelle nehmen. Auf meine Frage haben mich alle erstaunt angesehen.
Übrigens habe ich nicht zum ersten Mal Menschen ohne Gesicht gemalt. Auch aus meiner Zeit im Iran werden Sie solche Darstellungen finden, aber sie sind anders. Im Iran waren meine Arbeiten expressiv. In Japan verwende ich eine andere Technik. Die Lebendigkeit und die lebhaften Farben sind aus meiner Malerei verschwunden. Das ist unmittelbar auf den Einfluss meiner aktuellen Umgebung zurückzuführen.
Im Unterschied zu Ihren Figuren sind die Objekte um sie herum farbenfroh und lebendig. Warum dieser starke Kontrast?
Das ist meine Reaktion auf das, was ich hier täglich erlebe: Die vielen Blumen in den Straßen, die zahlreichen begrünten Fassaden und die farbenfrohen Objekte, die mich überall umgeben. Zunächst habe ich die Menschen gezeichnet. Dann erst ist mein Entschluss gereift, daraus ein ernsthaftes Projekt zu machen. Anschließend kamen die Farben hinzu. Zum Schluss malte ich die Objekte, die mich täglich umgeben.
Wie wird Ihre Arbeit als Malerin von Ihrem Hintergrund als Fotografin beeinflusst?
Für mich ist die Malerei eine Fortsetzung meiner Arbeit als Fotografin. Mit der Kamera nehme ich die Momente auf, deren Zeugin ich in der Gesellschaft werde. In meiner aktuellen Arbeit als Malerin wähle ich bestimmte Momente aus dem Leben der Menschen in der neuen Kultur aus, die mich umgibt. Für die Darstellung dieser Momente nutze ich die Malerei als Medium.
Wenn ich ein Foto aufnehme, brauche ich später nur selten den Bildausschnitt zu verändern. Denn bevor ich auf den Auslöser drücke, berücksichtige ich bereits alle Details und stelle mir das Bild vor meinem geistigen Auge vor. Wenn ich male, gehe ich genauso vor. Zunächst sehe ich alle Details vor mir. Dann entscheide ich, was ich malen will.
Eine weitere Parallele zwischen der Fotografie und der Malerei ist die Präsenz der Menschen. Sozial dokumentarische Fotografie und Fotojournalismus waren meine Arbeitsfelder. Wenn ich male, schaue ich auch auf die sozialen Themen, die mir als Fotografin wichtig waren. So kommt es, dass Menschen auch im Mittelpunkt meiner Malerei stehen.
Das Interview führte Changiz M. Varzi.
Übersetzt aus dem Englischen von Peter Lammers.
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