Der Virus und der Glaube

Als diese wichtigen Termine vorbei waren, trauten sich einige Journalisten und Mediziner, zu fragen, ob man nicht von den Chinesen lernen und die Stadt Qom unter Quarantäne stellen sollte. Eine Welle der Empörung, ein ohrenbetäubender Aufschrei der einflussreichsten Ayatollahs erfasste sofort das ganze Land – und alle Fragen verstummten. Die Kranken dieser Welt suchten und fänden am Schrein in Qom Heilung und Gesundheit, niemand dürfe und könne die heilige Stadt unter Quarantäne stellen, sagte Ayatollah Saidi, der Oberste Diener des heiligen Schreins.

Qom blieb also für jeden zugänglich, der Virus hatte seine Freiheit. Und breitete sich rasant im ganzen Land aus. 31 Provinzen des Iran sind inzwischen betroffen. Gilan und Mazandaran, die beiden nordiranischen Provinzen am Kaspischen Meer, haben Qom inzwischen abgelöst und sind zu den gefährlichsten Verbreitungsorten des Virus avanciert.

Offiziell gab es bis zum Niederschreiben dieser Zeilen (am Nachmittag des 10. März 2020) im Iran 291 Tote und 8.042 Infizierte. Doch die sozialen Medien und unabhängige Webseiten präsentieren andere Zahlen. Niemand glaubt niemandem mehr, den Verwaltern des Glaubens wird am wenigsten geglaubt.

Machtlosigkeit, wohin man schaut

Ob und wie die Machthaber in Teheran dieses Drama bewältigen können, ist schwer vorauszusagen. Die Islamische Republik lebte in ihrer über 40-jährigen Geschichte ständig in und von der Krise. Doch die Corona-Krise übertrifft alles Bisherige, denn sie trifft das Land in einer Situation der Ausweglosigkeit. Das Regime ist diplomatisch und wirtschaftlich praktisch isoliert, nun kommt eine Seuchenquarantäne hinzu. Alle Grenzen des Iran zu seinen Nachbarländern sind dicht. Das ist ein Wendepunkt in der Geschichte dieses hybriden Staates, der sich Republik nennt.

Künftige Generationen werden diese Epidemie mit Sicherheit als Meilenstein und tiefen Einschnitt in der Geschichte der Islamischen Republik wahrnehmen. Sie werden lesen, wie einflussreiche Ayatollahs die Ausbreitung des Virus zunächst begünstigt und ihn später zum möglichen Bioterrorismus gegen die Islamische Republik erklärt haben. Man wird in den Geschichtsbüchern lesen, wie manche Mullahs durch das ganze Land reisten, um gegen die westliche Medizin und für islamische Heilkunde zu werben, und wie die Sicherheitskräfte den Lebendigen untersagten, über die Zahl der Toten zu sprechen.

Noch wichtiger: Die Überlebenden werden durch diese Erzählungen die große Kluft erkennen, die sich zwischen Vernunft und Aberglauben auftat, und von jenem Vertrauensverlust erfahren, der sich selbst unter den Gläubigen verbreitete.

Mullahs fliehen vor dem Coronavirsu aus der Pilgerstadt Qom
Mullahs fliehen vor dem Coronavirsu aus der Pilgerstadt Qom

 Die Verweser des Glaubens in Not

Und was die Epidemie mit der herrschenden Religion anstellt, wird mit Sicherheit viele für lange Zeit beschäftigen. Denn der Coronavirus tötet nicht nur Menschen. Er greift auch jene Heiligkeiten an, auf denen das eigenartige Staatswesen namens Islamische Republik beruht. Es wird im Iran eine Vor- und eine Nach-Corona-Zeit geben. Nichts bleibt, wie es war.

Empfanden die Europäer im Mittelalter die Pest als Strafgericht Gottes für menschliche Sünden, griff damals religiöser Endzeitwahn um sich, zogen Flagellanten durch das Land und peitschten sich als Zeichen ihrer Sühne oder suchte man Schutz bei Gott und Gottesmännern, vollzieht sich im Iran dieser Tage genau das Gegenteil. Man entflieht den Geistlichen. In den sozialen Medien tauchen täglich neue Namen von schiitischen Gelehrten aus Qom auf, die am Coronavirus gestorben sind. Bis heute sind es zwölf.

Der König ist nicht nackt

Der König ist nicht nackt. Im Gegenteil. Das Volk sieht ihn via Internet gut geschützt und verhüllt, obwohl er im Verborgenen lebt. Seitdem der Virus offiziell da ist, hat Ali Khamenei, religiöses Oberhaupt und mächtigster Mann des Iran, sich nur zwei Mal und sehr kurz in der virtuellen Welt blicken lassen. Einmal saß sein persönlicher Arzt neben ihm, auf einem Sofa und mit gebührendem Abstand. Das zweite Mal sah man Khamenei, wie er in seinem Garten einen Baum pflanzte, seine Hand, die die Schaufel hielt, steckte in einer Plastiktüte. Es war der Tag des Umweltschutzes. 

Den Verkauf von Alkohol hat man freigegeben, um besser und mehr desinfizieren zu können. Das staatliche Fernsehen zeigt tanzendes und singendes medizinisches Personal in den Krankenhäusern, um Optimismus zu verbreiten: nur zwei Zeichen der herrschenden Hilflosigkeit. Wer der oberste Verantwortliche für die Bekämpfung des Coronavirus ist, scheint unklar. Am Mittwoch fragte der Parlamentspräsident in einem Brief an Khamenei, wer den Bekämpfungsstab leiten solle. Hassan Rouhani, soll Khamenei geantwortet haben. Doch auch der Staatspräsident zeigt sich kaum noch in der Öffentlichkeit.

Und selbst die Revolutionsgarden sind in Quarantäne. Ihre Kasernen seien die am besten geschützten Orte im Land, zitierte am Mittwoch die Nachrichtenagentur Fars einen Kommandeur. Sie bereiten sich offenbar auf die Zeit nach Corona vor. Ob sie dann noch dasselbe Land vorfinden, ist zweifelhaft.

© Iran Journal

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