Khameneis Blick nach Osten

Kaum hatte Xi Jinping im Januar 2016 Khameneis Residenz verlassen, tauchten viele Fragen auf: Wie stark wird künftig Chinas Präsenz im Iran sein, wie sieht dieser ominöse Plan aus, wann soll er beginnen, und wen hat Khamenei mit diesem Vorhaben betraut? Denn weder vom Präsidenten noch vom Außenminister hatte man bis dato von diesem Plan vernommen – beide waren ja in den letzten Jahren hauptsächlich mit dem Atomabkommen beschäftigt gewesen.

Bis kurz darauf  Ali Laridjanis Name auftauchte, damals noch Parlamentspräsident. Einige ihm nahestehende Webseiten schrieben, er sei auf Anweisung Khameneis bereits seit einem Jahr mit dem China-Dossier betraut, andere berichteten auch von einem 18-seitigen Strategieplan über das künftige Engagement Chinas im Iran. Und bald sickerten Einzelheiten dieses Papiers durch.

War es ein durchdachter Plan, eine unverbindliche Absichtserklärung oder nur zu Papier gebrachtes Wunschdenken Ali Laridjanis? Denn das aufsehenerregende Dossier über Chinas künftige Aktivitäten im Iran, das 2016 in Teheran durchsickerte, gibt es nur in persischer Sprache – wie manche meinen, absichtlich. China schweigt dazu, auch ein Dementi aus Peking gibt es nicht. Wie auch immer: Viele, nicht nur Oppositionelle, sprachen und sprechen von einem Dokument, das den Iran zu einer Kolonie Chinas degradieren würde, in der in- und ausländischen Presse war gar vom Ausverkauf Irans und einem großen Schritt Chinas zur Weltherrschaft die Rede.

Chinesische Omnipräsenz

Die zentrale Botschaft des Papiers lautete, China werde in den ersten fünf Jahren der Vereinbarung 280 Milliarden US-Dollar in die Entwicklung des iranischen Öl-, Gas- und Petrochemiesektors investieren. Diese Summe könne im nächsten Fünfjahresplan noch erhöht werden. Schon in den ersten fünf Jahren würde es außerdem weitere Investitionen von 120 Milliarden US-Dollar in die Modernisierung der iranischen Transport- und Fertigungsinfrastruktur geben. Auch dieses Summe könne alle fünf Jahre aufgestockt werden. Chinesische Unternehmen erhalten das Vorrecht, Angebote für alle Öl- und Gasfeldentwicklungen zu unterbreiten, die noch nicht fertiggestellt sind. Dasselbe Vorrecht sollen chinesische Firmen für alle Petrochemieprojekte bekommen, einschließlich der Bereitstellung von Technologien, Systemen, Prozessbestandteilen und natürlich dem Personal, das für die Durchführung erforderlich sei.

Rabatte über Rabatte

„Bis zu 5.000 chinesische Sicherheitskräfte werden in den Iran kommen, um chinesische Projekte zu schützen, und es wird zusätzliches Personal und Material geben, um den Transit der Öl-, Gas- und Petrochemieprodukte aus dem Iran nach China zu schützen, falls erforderlich, auch durch den Persischen Golf“, zitierte die Webseite Petroleum Economist im September 2019 in einem Bericht über das chinesisch-iranische Strategiepapier eine iranische Quelle, und weiter: „China erhält für alle Öl-, Gas- und Petrochemieprodukte einen garantierten Mindestrabatt von 12 Prozent auf den marktüblichen Durchschnittspreis und zusätzlich weitere 6 bis 8 Prozent für eine risikobereinigte Vergütung.“

Ein Vorzeigeprojekt: Eine neue Eisenbahnlinie soll die Stadt Bayan Nur im Norden Chinas mit Teheran verbinden
Ein Vorzeigeprojekt: Eine neue Eisenbahnlinie soll die Stadt Bayan Nur im Norden Chinas mit Teheran verbinden

Laut dem Bericht von Petroleum Economist wird China auch das Recht eingeräumt, Zahlungen für iranische Produkte um bis zu zwei Jahre zu verschieben. Außerdem könnten diese in „weichen“ Währungen erfolgen, die aus Chinas Geschäftstätigkeit in Afrika und den Staaten der ehemaligen Sowjetunion stammen. Jedenfalls werde der US-Dollar aus allen Transaktionen herausgehalten, um so die US-Sanktionen zu umgehen. Und die BBC berichtete, in dem Papier sei vom Bau einer „intelligenten Stadt“ am Persischen Golf sowie einer modernen Eisenbahnstrecke die Rede, die von der Grenze Pakistans bis zur Türkei und ans Mittelmeer reichen soll.

Interpretiere man dieses Papier richtig, werde der Iran technologisch, wirtschaftlich und sicherheitspolitisch quasi zum wichtigsten Glied der chinesischen „Belt and Road“-Strategie, mehr noch: zu einer chinesischen Provinz, befürchteten viele iranische Oppositionelle im In- und Ausland. Und diese Pessimisten hätten recht behalten können, wäre es denn tatsächlich so gekommen, wie sich die Verfasser des 18-seitigen Papiers ausgemalt haben. Doch ernsthafte Zweifel sind erlaubt.

Chinas geopolitische Interessen

Denn China macht nicht nur im Iran gute Geschäfte, sondern auch mit den Rivalen des Landes auf der anderen Seite des Persischen Golfs. Mit Saudi-Arabien, den Emiraten und anderen Golfmonarchien haben die Chinesen rege, ja sogar strategische Handelsbeziehungen. Eine zu mächtige Islamische Republik Iran widerspricht deshalb den geopolitischen Interessen Chinas in der Region.

Es ist also unwahrscheinlich, dass die chinesischen Investitionen im Iran, die seit 2005 stets durchschnittlich 1,8 Milliarden US-Dollar jährlich betrugen, in absehbarer Zeit dramatisch zunehmen werden. Auch die amerikanischen Sekundärsanktionen werden weiterhin eine große Abschreckung für chinesische Firmen sein. Bisher hat die Angst davor, vom US-amerikanischen Markt und Finanzsystem abgeschnitten zu werden, viele chinesische Unternehmen veranlasst, die Zusammenarbeit mit dem Iran einzustellen. Die Daten über Chinas Rohölimporte aus dem Iran belegen diesen Trend: Von 2018 bis 2019 gingen diese Einkäufe um 50 Prozent zurück. Gleichzeitig verdoppelten sich die Ölimporte Chinas aus Saudi-Arabien und dem Irak.

Das China-Papier von Ali Laridjani, das im Iran als offizielles Dokument zirkuliert, hat also zwar für viel Aufregung gesorgt. Doch genauer betrachtet handelt sich um nichts mehr als ein geduldiges Papier, das noch auf viele weltpolitische Entwicklungen warten muss, bis es Wirklichkeit wird.

Und auch den Mann, dem Khamenei das gewaltige China-Vorhaben anvertraute, nimmt zuhause niemand mehr ernst. Ali Laridjani hat seine Karriere hinter sich: Er ist Mitglied des iranischen Schlichtungsrats. Mehr nicht. Spötter nennen diesen Rat „das Parkhaus“: der Ort, wo jene entmachteten Ex-Funktionäre der Islamischen Republik „geparkt“ werden, für die Khamenei keine andere Verwendung mehr hat.

Angekommen im Parkhaus
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