Blick hinter Klischees: „Der neue Iran“

Im Fokus von Charlotte Wiedemanns im März erschienenen Buch „Der neue Iran“ steht die moderne iranische Zivilgesellschaft jenseits von Staat und Klerus. Historische Fakten untermauern den empathischen Blick der Autorin auf das Land zwischen Kaspischem Meer und Persischem Golf.
Charlotte Wiedemanns Beziehung zum Iran begann in den 1970er Jahren, nachdem die Studentin bei einer Anti-Schah-Demonstration von der Frankfurter Polizei am Kopf verletzt wurde. Das brachte ihr von ihren iranischen KommilitonInnen berührenden Respekt ein. In den 80ern unterrichtete sie dann iranische AsylbewerberInnen in Deutsch und verfolgte so einen der finstersten Abschnitte der neuen iranischen Geschichte.
Obgleich die iranische Regierung die Arbeit ausländischer JournalistInnen behindert, etwa nur zeitlich sehr eingeschränkte Visa vergibt und die Recherche außerhalb Teherans selten gestattet, besuchte Wiedemann seit 2004 mehrfach den Iran. „Der neue Iran“ ist ein Buch über das Land, über das so viel gesprochen wird und von dem viele dennoch so wenig wissen.
Zwischen Klischee und Selbstbild

Buchcover
Buchcover

„Nationalstolz, ein waches Gefühl von Kränkung und eine Prise Hochmut: Diese Mischung habe ich immer wieder angetroffen. Selbstbild, Fremdbild – wie Iraner sich selber sehen und wie sie aus dem Westen betrachtet werden, das ist der Ausgangspunkt dieses Buches.“ So beschreibt die Autorin, was sie zu veranschaulichen beabsichtigt. Auch wenn den Erfahrungen mit Land und Leuten persönliche Erlebnisse und Gespräche zu Grunde liegen, hat sie es sich zur Aufgabe gemacht, diese immer in einen politischen oder historischen Kontext zu stellen, der die Gesellschaft des heutigen Iran verstehbar macht.
Auf 278 Seiten widmet sich Wiedemann Themen abseits von Außenpolitik und den Klischees, die sich im Laufe der Jahre in westlichen Medien etabliert haben – ohne sie außer Acht zu lassen.
Traumata
In den zwölf Kapiteln des Buches geht Wiedemann auf ganz unterschiedliche Aspekte ein, die die heutige iranische Gesellschaft prägen. So begibt sie sich zu den Wurzeln der schiitischen Religion, indem sie in einem zehntägigen Tagebuch das Ashura-Fest beschreibt und dabei religionsgeschichtliche Hintergründe einflicht. Das Trauma, das der acht Jahre währende Krieg mit dem Irak in Bevölkerung und Wirtschaft hinterlassen hat, führt sie zu den Minen- und Schlachtfeldern in Khuzestan, wo sie auf Schulklassen und Kriegsveteranen trifft.
Charlotte Widemann
Charlotte Widemann

Exemplarisch für familiäre Spannungen und Widersprüchlichkeiten schildert Wiedemann ihre Treffen mit der Sozialforscherin und Feministin Fatemeh Sadeghi, der Tochter von Sadegh Khalkhali. Ihr Vater war einst vom Republikgründer Ayatollah Ruhollah Khomeini zum Chef der Revolutionsgerichte berufen worden und hinterließ als extrem linientreuer „Blutrichter“ nicht nur eine Rekordzahl grausamer Todesurteile, sondern auch ein schwer zu tragendes Erbe für seine Tochter.
Wie in fast allen anderen Kapiteln gelingt es der Autorin auch hier, mehrere Spuren gleichzeitig zu verfolgen, da sie es nicht versäumt, mit Sadeghi über ihre Arbeit zu sprechen – und dabei erfährt, wie Mädchen und Frauen im Iran den Schleierzwang erleben, aber auch nutzen.
Selbstreflexion
Ob in den Kapiteln über den Ariermythos oder das Alltagsleben iranischer Juden, Charlotte Wiedemann trachtet immer wieder danach, die Positionen westlicher Staaten und Denkweisen zu hinterfragen und Vorurteile zu entlarven. Dabei wird offenkundig, dass im Iran vieles nicht so ist, wie es auf den ersten oder zweiten Blick scheint. Schritt für Schritt gelinge es den jungen IranerInnen, so die Autorin, aus der Isolation herauszutreten. Wiedemann schwärmt nicht für den Iran. Aber sie beobachtet und schreibt mit großer Empathie.
  YASMIN KHALIFA
Charlotte Wiedemann „Der neue Iran – Eine Gesellschaft tritt aus dem Schatten“, dtv 2017
Veranstaltungen und Pressestimmen / www.charlottewiedemann.de
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