Warnung vor „Scheidungstsunami“

Die durchschnittliche Heiratsrate im Iran sinkt seit Jahren. Die Scheidungsrate dagegen steigt. Die islamische Regierung versucht diese Entwicklung zu ändern. Doch die Menschen folgen ihrem eigenen Weg.

Staatliche iranische Statistiken über Heirats- und Scheidungszahlen sowie der jährliche Bericht der nationalen Organisation für zivile Registrierung zeigen, dass die Scheidungsrate im Iran in den vergangenen zwanzig Jahren enorm zugenommen hat. Sie lag 2014 vier Mal höher als vor knapp 10 Jahren. Beobachter sprechen von einem „Scheidungstsunami“.
Auch die Anzahl der Eheschließungen hat sich verändert: Bis zum Jahr 2010 stieg diese stetig. Danach bewegt sich die Kurve abwärts und nimmt dabei eine immer steilere Neigung an.
Vergangenes Jahr wurden stündlich 82,6 Eheschließungen gegenüber 18,6 Scheidungen registriert. Damit scheiterte fast alle drei Minuten eine Ehe. Vom März bis November 2015 wurde im Iran pro 4,3 Eheschließungen eine Scheidung durchgeführt. Vor 20 Jahren war die Relation 12,7 zu eins.
Auch die sogenannte „emotionale Scheidung“, bei denen die Paare zwar weiter zusammenleben, aber keine Zuneigung zueinander haben, soll laut Medien und Experten weit verbreitet sein.
Fluch der Modernität
Es gibt einige Gründe, die die beschriebene Entwicklung verursacht haben dürften. Die wirtschaftliche Not und die hohe Arbeitslosigkeit gehören gewiss dazu. In den vergangenen fünf Jahren erlebte der Iran aufgrund des Missmanagements der Regierung Ahmadinedschad und der internationalen Sanktionen eine Rekordinflation.

Viele junge Iranerinnen legen großen Wert auf internationale Fashiontrends.

Auch eine veränderte gesellschaftliche Rolle von Frauen in der jüngeren Generation fordert die alten Strukturen heraus. Laut offiziellen Angaben sind 60 Prozent der Studierenden weiblich – trotz aller Einschränkungen, die eine Frau auf dem Arbeitsmarkt hat. Die von Familie und Gesellschaft stark kontrollierten Frauen erleben an der Universität eine neue Ebene der sozialen Interaktion, die ihre Eigenständigkeit und ihr Selbstbewusstsein fördert. Dies entspricht dem alten Frauenbild nicht.
Diese aktive Rolle von Frauen in gesellschaftlichen Entwicklungen sehen die Konservativen im Iran als Fluch. Sie wird in dem männlich dominierten Land für nahezu jedes Übel verantwortlich gemacht, von der hohen Scheidungsrate bis zur hohen Arbeitslosigkeit. Studium und eigenes Einkommen verschaffe Frauen Unabhängigkeit und erhöhe ihre Erwartungen. Dies könne dazu führen, dass sie nicht heirateten, so die Befürchtungen. Zudem nähmen gebildete Frauen den Männern die Arbeitsplätze weg. Die werde zu höherer Arbeitslosigkeit und damit verbundenen familiären und gesellschaftlichen Spannungen führen.
Großayatollah Lotfollah Safi Golpayegani beschrieb vergangenen Sommer die Arbeit im Haushalt als „die ehrenvollste Tätigkeit einer Frau“. Kinder gebären und den Ehemann betreuen seien deren eigentlichen Aufgaben.
Staatliche Maßnahmen
Um dem „Ungleichgewicht“ der männlichen und weiblichen Studierenden an den Universitäten etwas entgegenzusetzen, die „Werte der islamischen Herrschaft“ zu schützen und die „religiöse Kultur“ zu fördern, wurden in den vergangenen Jahren diverse Maßnahmen ergriffen, die direkt oder indirekt mit der zunehmenden Präsenz von Frauen in der Gesellschaft zu tun haben.
Dazu gehört etwa die Geschlechtertrennung an den Universitäten, deren Notwendigkeit 2011 selbst der Expertenrat bestätigte, dessen im Grundgesetz verankerte Aufgabe eigentlich die Ernennung des geistlichen Führers des Landes und die Aufsicht über jenen ist.
Auf der anderen Seite seien für Frauen zuständige staatliche Einrichtungen in den vergangenen Jahren systematisch abgebaut worden, stellt Zahra Shodjaie in einem Interview mit der Tageszeitung Rouzegar fest. Shodjaie war Leiterin des Präsidialamtes für Kooperation der Frauen unter dem damaligen Präsidenten Mohammad Khatami (1997-2005). Dieses Amt wurde unter Präsident Mahmoud Ahmadinedschad in „Amt für Familie und Frauen“ umbenannt. Es beschäftigte sich zunehmend eher mit ideologischen Fragen wie etwa den islamischen Kleidervorschriften als mit der Berufsförderung von Frauen.
Rund 14 Prozent der iranischen Ehepaare wollen keine Kinder bekommen, weitere 19 Prozent haben nur ein Kind.

Politische und religiöse Ambitionen
Der Versuch, „Frauen zuhause einzusperren“, wie es Kritiker nennen, scheint aber noch einen anderen Grund zu haben: Die Volkszählung 2011 zeigte, dass das junge Land Iran altert. Die Geburtenraten gehen zurück.
Das Land mit derzeit knapp 80 Millionen Einwohnern hätte jedoch für mindestens 150 Millionen Menschen Platz und Ressourcen, meint der geistliche Führer des Iran, Ayatollah Ali Chamenei, und plädiert seit Jahren für mehr Geburten. Mahmoud Ahmadinedschad teilte diese Meinung.
In Anbetracht der ökonomischen und ökologischen Probleme des Landes, etwa die zunehmende Wasserknappheit, haben Beobachter allerdings Zweifel an der Theorie. Sie vermuten den Grund für den Wunsch nach Bevölkerungswachstum darin, dass ein junges und bevölkerungsreiches schiitisches Land im Wettbewerb mit mehrheitlich sunnitischen Ländern im Vorteil sein könnte.
Um die Geburtenrate anzukurbeln, hat die islamische Republik in den vergangenen Jahren sämtliche Maßnahmen zum kontrollierten Bevölkerungswachstum in Frage gestellt. Das Gesundheitsministerium strich im Jahr 2012 das Geld für Familienplanung. Der oberste Rat der Kulturrevolution, der die Islamisierung des iranischen Kulturwesens koordiniert und unter anderem über das Lernmaterial entscheidet, gab im selben Jahr bekannt, den Kurs „Familienplanung“ an den Universitäten in „Familienkunde“ umwandeln zu wollen. Im neuen Kurs soll auch die Kinderbetreuung thematisiert werden.
Die immer noch steigende Scheidungsrate und das zunehmende Heiratsalter zeigen jedoch, dass all diese Maßnahmen bislang die ersehnte Wirkung kaum erzielt haben. Darüber hinaus deute das Interesse der IranerInnen vor allem in Großstädten an außerehelichen Beziehungen, Single-Haushalten oder Kleinfamilien auf den Wunsch nach mehr Individualismus und bewusste Entscheidungen für Familienleben hin, meinen Experten.
IMAN ASLANI