„Wie ein geöffnetes Bonbon“

Der Iran zählt zu den weltgrößten Märkten für Kosmetikartikel; nach offiziellen Angaben der zweitgrößte im Nahen Osten. International ist das Land der siebtgrößte Importeur von Kosmetik. Den Moralaposteln im Gottesstaat ist „die Dekadenz“ zuwider, doch allem Anschein nach sind sie machtlos gegen eine aufbegehrende Jugend. 

36 Prozent der iranischen Bevölkerung (28 Millionen) sind Frauen zwischen 15 und 65 Jahren. Sie sind Hauptkonsumentinnen. Berichte warnen vor der Ausbreitung des Schminkens in iranischen Grundschulen.

Angaben des iranischen Zollamtes belegen, dass allein in den ersten drei Monaten des laufenden Jahres Schminkartikel im Wert von 19 Millionen Euro eingeführt wurden. Spanien, Italien, Deutschland, die Vereinten Arabischen Emirate und Frankreich sind die Hauptlieferanten. Diese Menge an Kosmetikartikel sättigt allerdings nur einen Bruchteil des tatsächlichen Marktes. Der riesige Markt ist für die ausländischen Hersteller genauso attraktiv wie für Schmuggler. Laut Justizministerium werden 80 Prozent der Schminkartikel auf dem iranischen Markt illegal importiert und somit vom Zollamt nicht erfasst. Ein Großteil seien minderwertige Produkte aus China.

Aussehen keine persönliche Angelegenheit

Noch interessanter klingen die Zahlen, wenn man bedenkt, dass die Art und Weise, wie moderne Iranerinnen öffentlich auftreten, den Vorstellungen des konservativen Gesetzgebers überhaupt nicht entspricht. Ein enger, kurzärmeliger, offener, farbenfroher Mantel, starkes Schminken, ein schmales Kopftuch, das die getönten Haare nicht bedeckt, oder eine enge knöchellange Hose ohne Socken, selbst ein Paar knielange Absatzstiefel sind Grund genug, dass die Sittenpolizei Frauen mit Gewalt in den Streifenwagen zerrt.

Dies beruht auf dem „Gesetz für Keuschheit und Hidschab“ – Hidschab meint die Kopf- und Körperbedeckung nach islamischen Vorschriften. Das im Januar 2006 vom Obersten Rat der Kulturrevolution – der die Islamisierung des iranischen Kulturwesens koordiniert – verabschiedete Gesetz beschreibt die Strategie zur Verbreitung von Keuschheit und schreibt die entsprechenden Aufgaben der Ministerien, Polizeiabteilungen und Ämter dabei akribisch vor.

Die iranische Polizei (in Schwarz) hat die Kontrolle der Frauen verstärkt. Nach Angaben der Augenzeugen werden in Großstädten täglich mehrere Frauen auf den Straßen angehalten und ermahnt.
Die iranische Polizei (hier in Schwarz) ist Tag und Nacht auf der Jagd nach „unsittlich“ gekleideten Frauen

Jedes Jahr zu Beginn des Sommers, wenn die Bekleidung klimabedingt leichter wird, oder Anfang des Winters, wenn die Stiefel und kurzen Jacken aus dem Keller geholt werden, werden die Maßnahmen verschärft. Selbst Autos von Fahrerinnen, die Kleidervorschriften nicht einhalten, werden eine Zeitlang aus dem Verkehr gezogen und dementsprechend beschriftet zur Schau gestellt.

Konservative unterstellen den Reformisten und Gemäßigten „kulturellen Liberalismus“ und setzen damit die Regierung und das Kultur- und Innenministerium unter Druck. Im Sommer 2014 zeigten zwei Abgeordnete im Parlament Bilder von jungen Frauen mit Strumpfhosen in der Öffentlichkeit und fragten den Innenminister, warum sein Ministerium keine Maßnahmen dagegen ergreife.

Werbemaschinerie erfolglos

Offiziellen Angaben zufolge sind mehr als 30 Ministerien und staatliche Einrichtungen für die Verbreitung von „Keuschheit und Hidschab“ zuständig, darunter einige Stiftungen und Organisationen, die die staatlich festgelegten Vorschriften propagieren. Riesige Werbeplakate, die die verschleierte Frau auf dem Weg in den Himmel und die unverschleierte auf dem Weg in die Hölle zeigen, die verschleierte Frau mit einem verschlossenen, die unverschleierte mit einem geöffneten und von Ungeziefer befallenen Bonbon, sind Produkte des staatlichen Propagandaapparats.

2015 wurden am „Nationalen Tag von Keuschheit und Hidschab“ Mitte Juli in zehn U-Bahnstationen in der Hauptstadt Teheran verschleierte Frauen mit Blumen beschenkt. Zum diesjährigem Jubiläum fand unter anderem eine Versammlung verschleierter Frauen auf einem öffentlichen Platz in Teheran statt, initiiert von einer einst nicht vorschriftsmäßig angezogenen Schauspielerin, die sich nun im Tschador für islamische Kleidervorschriften einsetzt.

Die Konservativen handeln dabei jedoch manchmal so extrem, dass selbst ihre eigenen Reihen in Erklärungsnot geraten. Vergangene Woche zeigte die ultrakonservative Wochenzeitung Yalasarat Fotos von  FilmemacherInnen und SchauspielerInnen auf dem roten Teppich eines Filmfestes und beschimpfte die Männer als „Zuhälter“, weil sie ihre Frauen leicht bekleidet und stark geschminkt wie auf westlichen Galaabenden zur Schau stellen würden. Die Wochenzeitung musste dafür nicht nur Kritik aus dem eigenen Lager einstecken, sondern wurde von den Behörden eingestellt.

Rebellion und Perfektionismus

Schminken und Schönheitsoperationen sind allerdings schon lange keine reine Frauensache mehr im Iran
Schminken und Schönheitsoperationen sind keine reine Frauensache mehr im Iran

Die Rebellion der jungen Generation gegen die Vorschriften einer konservativen Gesellschaft erkläre den hohen Konsum von Schminkartikeln, meinen die Einen. Selbst für religiöse Trauertage gibt es mittlerweile spezielle Stylings. Auf den Bildern solcher Feiertage sind oft schwarz gekleidete, dunkel geschminkte junge Frauen zu sehen, die ihre sorgfältig manikürten langen Nägel schwarz lackiert haben.

Viele Iranerinnen möchten das, was sie in der Öffentlichkeit zeigen dürfen, nämlich ihr Gesicht, ihre Hände und ihre Körperkonturen, soweit wie möglich perfekt gestalten, meinen die Anderen: daher das auffällig starke Schminken im Alltag, daher die extrem hohe Rate an Schönheitsoperationen.

Auch Frauen aus konservativen Schichten zeigen sich gerne geschminkt, wenn sie unter sich sind. Schließlich soll man sich vor dem Blick unbekannter Männer abschirmen, für ihren eigenen Ehemann jedoch soll sich eine Frau besonders schön machen, so das islamische Gebot.

Schminken und Schönheitsoperationen sind allerdings schon lange keine reine Frauensache mehr im Iran. Viele Männer lassen sich ebenso gerne Strähnen in die Haare färben, Muttermale operativ entfernen oder die Nase richten.

  IMAN ASLANI

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