Krisen der Islamischen Republik Iran

Nichts kann bleiben, wie es ist

„Nation building“ als kolonialistisches Projekt

Und diese Institute schreiben und argumentieren seitdem in ihren dicken Büchern und Expertisen über die islamische Zivilisation als Endziel als Alternative zu „nation building“, das ein westliches, kolonialistisches Projekt sei. Die ganze Kampagne nennt sich „zweiter Schritt der Revolution“.

„Ich bin kein Diplomat, kein Staatsmann, ich bin ein Revolutionär“: Diesen Satz wiederholt Chamenei so oft, bis jede und jeder im Land begreift, dass nicht der Staat, nicht das Land oder das Wohl seiner Bevölkerung das Ziel der Herrschaft sei. Die weltweite Revolution hin zur islamischen Zivilisation war und ist die Endstation, alles andere, selbst das Schicksal eines Volkes, erscheint diesem hehren Ziel gegenüber als marginal, banal und irrelevant.

Präsidiale Insolvenzmeldung

Kein Wunder, dass nach einer fast 42-jährigen Herrschaft und dem Einsatz von enormen menschlichen und materiellen Opfern nun die präsidiale Insolvenzerklärung verkündet wird. Jede*r dritte*r Iraner*in wolle das Land verlassen, hat vor kurzem ein Meinungsforschungsinstitut herausgefunden. Auf Instagram berichtet die Deutsche Botschaft in Teheran, im letzten Wintersemester seien 416.000 ausländische Studierende an deutschen Hochschulen zugelassen worden, darunter befänden sich mehr als 11.000 Iraner*innen. Die Zahl der Bewerbungen sei viel höher gewesen, doch man habe nicht mehr Visa erteilen können.

Welchen Ausweg sehen die Mächtigen aus dieser Sackgasse, wie wollen sie mit der zunehmenden Unzufriedenheit der über 80 Millionen Iraner*innen umgehen, von denen 70 Prozent nach offiziellen Angaben unter der Armutsgrenze leben? Offenbar mit bewährter und bekannter Methode.

Der Mann der Stunde

Seine Vergangenheit ist bizarr und beängstigend, trotzdem oder gerade deshalb soll er die ungewisse Zukunft managen. Wie die islamische Republik ihre multiplen existenziellen Krisen überstehen, was nach Chameneis Tod geschehen und welche Rolle dann Präsident Raissi spielen soll, über all das und über noch viele andere Unwägbarkeiten wird er in vorderster Front entscheidend mitbestimmen. Der breiten Öffentlichkeit im Westen mag er kein Begriff sein, aber für die Eingeweihten in der Region und die Geheimdienste der Welt ist er ein alter Bekannter. 63 Jahre ist er alt und nennt sich seit der Revolution Ahmad Vahidi. Wie viele andere Mächtige der Islamischen Republik änderte auch er damals seinen nicht allzu vorteilhaft klingenden Nachnamen.

Seit Bestehen der Islamischen Republik ist er ein „Gardist der Revolution“. Er gründete und leitete drei Jahre lang den Geheimdienst der Revolutionsgarden. Dann schuf er die Quds-Brigaden, jene Spezialeinheit, die exterritoriale Operationen durchführt. Zehn Jahre war er selbst Chef dieser Truppe. Ihm folgte der berühmt-berüchtigte General Qassem Soleimani, der im Januar 2020 auf Befehl von US-Präsident Donald Trump auf dem Flughafen von Bagdad ermordet wurde. Vahidi gehörte stets dem Kommandostab der Revolutionsgarden an, war Verteidigungsminister unter Präsident Mahmud Ahmadinedschad und ist bei Rüstungseinkäufen und -produktion ein wichtiger Mitentscheider.

Ahmad Vahidi, der Mann der Stunde
Ahmad Vahidi, der Mann der Stunde!

In der neuen Regierung verkörpert Vahidi die faktische Macht. Die Liste seiner Zuständigkeiten ist lang: Der General ist Innenminister, Chef des nationalen Sicherheitsrats, Oberbefehlshaber der Streitkräfte für innere Sicherheit und Leiter des Generalstabs für die Coronabekämpfung. Wenige Stunden, nachdem das Teheraner Parlament seine Ernennung zum Innenminister fast einstimmig bestätigt hatte, traf eine scharfe Protestnote aus Argentinien ein. Denn Vahidi ist nach Einschätzung der argentinischen Ermittler Drahtzieher des schweren Bombenanschlags 1994 auf das jüdische Gemeindezentrum Amia in Buenos Aires, bei dem 85 Menschen ums Leben kamen. Dass er auf der „Red notice-Liste“ von Interpol ganz oben rangiert, verdankt er diesem und einigen anderen spektakulären Terrorakten in verschiedenen Länder der Erde. 

Alles Quds-Offiziere

Mit ausreichender Macht ausgestattet, soll er nun im Inneren des Landes die gefährlichen Übergangsklippen zu Post-Chamenei-Ära managen. Ein Zeitabschnitt, dessen beängstigende Vorzeichen längst am dunklen Horizont zu sehen sind. Im zweiten Monat seiner Amtszeit hat Vahidi die Gründung eines neuen mächtigen Geheimdienstes bekanntgegeben, der ihm persönlich untersteht. Damit hat die Islamische Republik nun 17 unterschiedliche Geheimdienste.

Für die ungewisse Zukunft hat der neue Innenminister einen alle Lebensbereiche umfassenden Plan, den er fast wöchentlich bei seinen Reisen durch die Provinzen des Landes vorstellt. Bei diesen Reisen geht es immer um die Vorstellung eines neuen Provinzgouverneurs. Das neueste Kapitel seines „Entwurfs“ stellte er am 9. Dezember im Nordosten des Landes vor. Es war ein detaillierter Plan zur Frauenpolitik mit dem Ziel, die „Gefahr des Feminismus“ abzuwenden. Am Ende seiner Ausführung resümierte Vahidi: „Wenn die Islamische Republik je bezwungen und zerstört werden sollte, dann an der  ‚Frauenfront‘.“ 

Die neuen lokalen Machthaber, bei deren Amtseinführung er jeweils einen Teil seines „Entwurfs“ präsentiert, kommen fast alle, wie der Chef selbst, aus den Quds-Brigaden. Sie verkörpern Vahidis Politik und Programm, sie sind mit neuen und notwendigen Befugnissen ausgestattet und können im Bedarfsfall zu Alleinherrschern ihrer Region mutieren.

Das Ende eines Theaters

Schon in den ersten vier Monaten der Präsidentschaft von Raissi ist unverkennbar, dass wir uns in einem neuen Geschichtsabschnitt der Islamischen Republik befinden. Das Zeitalter des Dualismus – hier die gewählte, aber machtlose zivile Regierung, dort die allmächtige Schattenherrschaft der Revolutionsgarden – ist endgültig vorbei: Die Revolutionsgarden haben inzwischen auch die zivile Verwaltung auf fast allen Ebenen des Staates und im ganzen Land übernommen. 

Fortsetzung auf Seite 3