„Propheten waren nie gute Pluralisten“
Der Theologe Abdolkarim Sorusch ist bekannt für seine Ideen zur Erneuerung und Reform des islamischen Denkens und Wissens. Im Interview mit Dara Alani erläutert er, warum er sich auf der Suche nach einem umfassenden Religionsansatz auf die Arbeit des iranischen Sufi-Mystikers Rumi stützt.
Sie sind stark von Dschalal ad-Din Muhammad ar-Rumi inspiriert, dem iranischen Sufi-Mystiker aus dem 13. Jahrhundert. Was können wir Ihrer Meinung nach von diesem Denker für unsere heutige Zeit lernen?
Abdolkarim Sorusch: Wenn Sie mich fragen, was wir, die wir im 21. Jahrhundert leben, von Rumi lernen können, könnte ich Ihnen darauf eine pauschale Antwort geben. Doch meine eigentliche Antwort ist: „Lesen Sie einfach seine Werke!“ Denn Rumis Werke sind wie der weite Ozean. Wer wissen will, was ein Ozean ist, muss sich hineinbegeben und lernen, wie man darin schwimmt. Wer Rumi liest, wird eine andere Welt sehen. Und genau das brauchen wir. Denn im Moment unserer Geburt werden wir in eine Familie, eine Stadt, ein bestimmtes Land und eine bestimmte Kultur hineingeboren. Wir brauchen jemanden, der uns hilft, unsere Sicht der Welt zu ändern. Und dieser Jemand kann Rumi sein. Wir alle leben unser Leben, aber wir alle brauchen Menschen wie Rumi, die unserem Leben einen Sinn geben, uns sagen, was das wahre Wesen unseres Lebens ist.
Darüber hinaus hat Rumi, wie ich ihn verstehe, eine direkte Erfahrung mit Gott, eine direkte Erfahrung mit der Göttlichkeit. Er ist wie ein Mensch, der die Prophezeiung fortsetzt, der in der Tradition der Propheten steht. Wir brauchen solche Menschen, die wir anschauen können und bei denen wir erkennen: Hier ist die Prophezeiung, hier ist die Göttlichkeit, hier ist der Sinn unseres Lebens verkörpert
Theologie kann als Wissenschaft verstanden werden, die sich mit Fragen nach der Vorstellung von Gott, Schöpfung und Menschheit sowie den Beziehungen zwischen diesen auseinandersetzt. Kann der Sufismus in diesem Zusammenhang als integraler Bestandteil der Theologie angesehen werden?
Sufismus, Mystik oder irfan, wie ich es nennen möchte, ist eine Lebensweise, die diese Welt mit der anderen Welt verbindet. Irfan kommt eigentlich vom Wort marifa und das bedeutet Erkenntnis, Wissen. Doch es hat eine weitere Bedeutung: Arif oder irfan kommt vom Arabischen arf, was schmecken oder riechen bedeutet. Ein arif ist also jemand, der Gott riechen kann. Er kann den Duft riechen, den Äther der Göttlichkeit. Bei Rumi gibt es ein schönes Gleichnis. Er sagt: Angenommen, du bist ein Jäger, der eine Moschus-Gazelle jagt. Zunächst schaust du auf den Boden, siehst die Fährte der Gazelle und gehst ihm nach; du folgst ihm. Noch siehst du die Gazelle nicht, nimmst aber den Duft des Moschus wahr und spürst, dass du der Gazelle nahe bist, ohne ihn bereits sehen zu können. Du schreitest weiter und siehst plötzlich die Gazelle. Hier haben wir es mit drei Dingen zu tun. Zunächst die Fährte. Sie ist die Spur der Gazelle und kann von kundigen Menschen gelesen werden. Sobald du den Duft wahrnimmst, bist du nicht mehr bloß ein Wissenschaftler, denn jetzt spürst du die Gazelle. Was zunächst darauf hindeutete, dass dies die Fährte einer Gazelle ist, woraus du schließen konntest, dass es ihn gibt, wird zur Gewissheit, sobald du den Duft wahrnimmst. Ein wenig später siehst du ihn dann. Ein arif ist jemand, der zuerst den Duft riecht und dann versucht, zum Ziel seiner Suche zu gelangen.
Halten Sie es als überzeugter Verfechter der Pluralität für möglich, Pluralität im religiösen Rahmen zu verteidigen? Jede monotheistische Religion versteht sich doch letztlich als der einzig wahre Weg zu Gott, sodass es keinen Raum für wirkliche Pluralität zu geben scheint.
Das ist wohl wahr. Propheten waren nie gute Pluralisten, das ist ein wichtiger Punkt. Lassen Sie mich ein Beispiel nennen: Sie befinden sich auf einem Marktplatz mit verschiedenen Geschäften. Jeder Ladeninhaber wirbt natürlich allein für sein eigenes Geschäft. Das ist ganz selbstverständlich. Niemand wird für das Geschäft eines anderen werben. Jeder versucht, so erfolgreich wie möglich zu sein und so viele Kunden wie möglich zu gewinnen. Doch wie denken die Kunden? Sie stehen auf dem Markt und sehen die vielen Geschäfte, die sie umwerben. Diese Menschen müssen pluralistisch sein. Die Ladeninhaber sind keine Pluralisten, doch der Marktplatz ist ein Ort der Pluralität. Der Prophet des Islam war kein Pluralist, ebenso wenig wie der Prophet des Christentums oder anderer Religionen. Aber ich als Kunde sehe eine Reihe von Geschäften vor mir. Ich kann mir also überlegen, einiges von dem, was ich benötige, in diesem Geschäft und anderes in einem anderen Geschäft zu erwerben. Pluralismus funktioniert nur, wenn alle diese Geschäfte geöffnet und intakt bleiben. Man darf nicht bestimmte Geschäfte schließen und andere geöffnet lassen. Ich bin für Pluralismus. Dies ist die gesellschaftliche Sicht.
Aus theologischer Sicht könnten wir die Frage aus einer weiteren Perspektive betrachten. Sind wir alle gleich – gleich in den Augen Gottes, ohne Rücksicht auf unsere Religion? Es gibt viele Religionen auf der Welt. Darüber hinaus gibt es noch Ideologien, die sich vielleicht nicht als Religion bezeichnen. Was hat also Gott mit ihnen zu tun? Ich weiß es nicht. Schließlich bin ich nicht Gott. Die Antwort sollte allein Gott vorbehalten sein. Vielleicht erkennen wir in unserem anderen Leben, was mit uns geschehen wird. Doch eines kann ich sagen: Solange man wahrhaftig bleibt, wird man gerettet – ganz gleich, ob man nun Christ, Muslim oder etwas anderes ist. Natürlich wird ein Prophet einer bestimmten Religion sagen: Komm zu mir, geh nicht zu den anderen. Aber ich als Kunde auf dem Markt kann wählen, zu wem ich gehe, und solange ich die Wahrheit suche, solange ich ehrlich bin und fair handle, reicht das. Denn der Zweck, das Ziel aller Religionen ist es doch, uns zu ehrlichen Menschen zu machen.
Ich würde Pluralität gerne noch auf einer anderen Ebene ansprechen. Manche kritisieren, dass Sie nicht über die Probleme und die Lage sprechen, mit der Minderheiten konfrontiert sind. Beispielsweise religiöse Minderheiten wie die Bahai im Iran. Ähnliches gilt für ethnische Minderheiten, wie beispielsweise Kurden und Araber im Iran oder Berber in einigen arabischen Ländern. Sind Sie sich dessen bewusst und gibt es einen Grund, warum Sie dieses Themenfeld meiden?
Erstens hat jeder sein eigenes Forschungs- und Tätigkeitsfeld. Man kann nicht alles machen. Ich habe mein eigenes Fachgebiet, meinen eigenen Wirkungsbereich, mein eigenes Verständnis von der Welt, von meinem Land. Zweitens, was mache ich in Deutschland? Was mache ich in den USA? Ich kann nicht in mein Land zurückkehren. Warum? Weil ich gegen die Ungerechtigkeit in meinem Land und anderswo kämpfe. Eine Ungerechtigkeit, die nicht nur gegen die Bahai und andere Minderheiten gerichtet ist, sondern auch gegen die Muslime selbst. Ich und meine muslimischen Mitmenschen, meine muslimischen Mitstreiter, wir arbeiten für das ganze Land, für das Volk, ohne Diskriminierung, sei es für Kurden, Araber, Bahai oder andere. In meinem Herkunftsland, in unseren Ländern, in den Ländern des Orients werden wir von den Pflichten überwältigt. Unsere Rechte werden von der Bürde der Pflichten unterdrückt und erstickt. Das ist schlecht. Wir müssen daher den Rechten wieder Vorrang vor den Pflichten einräumen.
Hier in Europa gibt es ein Ungleichgewicht. Im Iran und in den arabischen Ländern gibt es ebenfalls ein Ungleichgewicht. Doch die Art des Ungleichgewichts ist eine andere. Im Westen stehen die Rechte vor den Pflichten, während im Orient die Pflichten vor den Rechten stehen. Wir müssen das Gleichgewicht wiederherstellen. Ich und meine Kollegen und Freunde setzen uns für die Rechte aller Menschen ein, die im Iran leben. Ohne jede Diskriminierung, ohne eine bestimmte Position gegenüber einer bestimmten Minderheit, Religion oder ethnischen Zugehörigkeit oder was auch immer.♦
Das Interview führte Dara Alani.
Aus dem Englischen von Peter Lammers.
© Qantara
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