Rütteln an Grundfesten: Exil-Theologen verunsichern die Ayatollahs

Das virtuelle Dorf macht es möglich: Religiöse Gelehrte im Exil stellen die Grundsätze des schiitisch-iranischen Islam infrage. Ihre fachliche Autorität ist dabei unbestreitbar. Und sie stehen via Internet in regem Kontakt mit dem schiitischen Lehrbetrieb ihrer Heimat. Eine ihrer ketzerischen Fragen lautet: Ist der Koran Gottes Wort oder ein erzählter Traum des Propheten Mohammed?    
„Reich ohne Himmel“ lautet der Titel des Essays – eine religionshistorische Schrift, gerichtet an ein Fachpublikum. Erst in der Mitte des Textes erfährt der Leser, wo das besagte Reich liegt und warum ihm der Himmel abhanden gekommen ist. Der Autor erzählt dort von einer persönlichen Begegnung: Kürzlich habe ihn ein Gelehrter aus der heiligen iranischen Stadt Qom besucht und berichtet, dass inzwischen auch dort viele Geistliche der Meinung seien, der Koran sei eine Traumerzählung des Propheten. „Nun auch die Gelehrten?, fragte ich entrüstet meinen Besucher und wollte von ihm wissen, wie sie das begründen würden. Ganz einfach und nachvollziehbar, antwortete er: Etwas zu sehen oder zu hören, was andere nicht wahrnehmen, ist bekanntlich eine Krankheit. Behauptet jemand, er höre oder sehe im wachen Zustand etwas, was andere nicht vernehmen können, schicken wir ihn höchstwahrscheinlich in die Psychiaterie. Wenn wir annehmen, dass Mohammed – Friede sei mit ihm – in wachem Zustand die Koranverse hörte, während andere das nicht konnten, dann liegt – Gott behüte – ein Fall von Halluzination vor. Dann wäre der Prophet geisteskrank – und welcher Gelehrte käme auf solch einen schwachsinnigen Gedanken?“
Nach dieser Episode kehrt der Autor zurück zum eigentlichen Thema seiner Abhandlung, einem Philosophen aus dem 13. Jahrhundert. Zu lesen ist sie auf der Webseite radiozamaneh.
Es brennt lichterloh
Der Autor, der hier von seiner bestürzenden Begegnung berichtet, heißt Nassrollah Pour Djawadi und ist allen Theologen, Schriftstellern und politischen Aktivisten des Iran altbekannt. Der 74-Jährige ist ein in den USA ausgebildeter Philosoph und Autor Dutzender Bücher über Religionsgeschichte und -philosophie. Seine Sprache und sein Schreibstil sind eigen, Pour Djawadi ist auch Dichter. In den ersten Tagen der Revolution saß er in jenem Komitee, das auf Geheiß von Revolutionsführer Ayatollah Ruhollah Khomeini die Universitäten von „unislamischen Elementen“ säubern sollte. Später leitete Pour Djawadi ein Institut, das Universitätspublikationen beaufsichtigte. Es gab fast zweitausend Bücher für Hochschulen heraus.

Nassrollah Pour Djawadi - einst saß er in jenem Komitee, das die Universitäten von „unislamischen Elementen“ säubern sollte
Nassrollah Pour Djawadi – einst saß er in jenem Komitee, das die Universitäten von „unislamischen Elementen“ säubern sollte

Doch diese Zeiten sind längst vorbei. Pour Djawadi wurde vor zehn Jahren entmachtet und in die vorzeitige Rente geschickt, meldet sich aber weiterhin zu Wort, vor allem, wenn es brennt. Und momentan brennt es lichterloh. Pour Djawadis Text, nur einen Monat alt, beschäftigt sich mit einer Lunte, die vor drei Jahren gelegt wurde und seither nicht erlöschen will. Im Gegenteil: Sie hat, wie der Autor berichtet, längst sogar das Herz der schiitischen Gelehrsamkeit in der heiligen Stadt Qom erreicht.
Verunsicherte Muslime
Wie kam Mohammed zum Koran: im Traum oder durch göttliche Eingebung in wachem Zustand? Ist der heilige Text Gottes Wort, wie Muslime weltweit glauben, oder ist er Mohammeds Traumerzählung? Grundsätzliche Fragen, über die sich auch ein einfacher Muslim ernsthaft Gedanken machen muss, denn sie haben mit den Fundamenten des Glaubens zu tun. Für einen Gläubigen ist und bleibt der Koran „کلام اله“ (kalam Allah, deutsch: Gottes Wort), in arabischer Sprache vom Erzengel Gabriel überbracht und von Mohammed in wachem Zustand empfangen. Daran gibt es für Muslime keinen Zweifel. Dennoch: Traum oder Eingebung, das ist ein Thema, mit dem sich sogar BBC Persian vergangenen Sommer ausführlich in zwei langen Diskussionsrunden befasste. Und der persischsprachige Sender wird von 70 Prozent der IranerInnen regelmäßig gesehen, wie Nosratollah Zarghami, der ehemalige Leiter des iranischen Staatsfunks, vor einem Jahr zugab.
Auf der Webseite des britischen Senders sind derzeit Dutzende Beiträge zu diesem Thema zu lesen.
Der Bote ist wichtiger als die Botschaft
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