Der Waffengang der Schlafwandler

Shariatmadari war Vizeminister des Geheimdienstes, als Khamenei ihn vor 25 Jahren zum herausgebenden Chefredakteur von Keyhan ernannte. Er hat direkten Zugang zu den dunkelsten Ecken des iranischen Machtlabyrinths.
Wenn jemand wissen will, wie Ayatollah Khamenei die Welt sieht, soll er Keyhan lesen, vor allem dann, wenn Khamenei schweigt oder sich in der Öffentlichkeit doppeldeutig äußert.
Denn Keyhan weiß, wohin die Reise gehen soll. Oft agiert die Zeitung als Vorbote dessen, was die Hardliner in den Sicherheitsapparaten tun wollen, ob sie etwa eine neue Verhaftungswelle planen, bestimmte Zensurmaßnahmen durchführen wollen oder eine Änderung der Außenpolitik anstreben.
Nun ist es wieder die Zeit, Keyhan genauer zu studieren. Die Alarmglocken sind unüberhörbar. Zwischen Riad und Teheran könnten nach monatelangen martialischen Worten bald mörderische Taten folgen. Oder ist es schon eine echte Kriegserklärung, was Tuki Al Maleki am 5. November im saudischen Fernsehen verlas? Er ist der Sprecher eines von den Saudis geführten Militärbündnisses, das seit zweieinhalb Jahren gegen die Huthi-Rebellen im Jemen kämpft.
„Der Iran gefährdet den Weltfrieden“
Der Iran habe gerade einen Akt der Aggression gegen ein Nachbarland vollzogen, „der den Frieden und die Sicherheit in der Region gefährdet“, sagte Maleki in trockenem und vieldeutigem Ton. Es ging es um eine Rakete aus dem Jemen, die wenige Stunden zuvor dem Flughafen in Riad gefährlich nah gekommen war. Diese Rakete sei iranischen Ursprungs gewesen und somit sei der Raketenbeschuss ein „Akt der iranischen Aggression“, so der saudische Militärsprecher.
Auf der Eskalationsskala gibt es kaum noch Stufen nach oben. Parallel zu dieser „Kriegserklärung“ nehmen die Rivalitäten zwischen Teheran und Riad in der gesamten Region gefährliche Züge an.

Im Jemen sind bereits 900.000 Menschen an Cholera erkrankt - Foto: isna.ir
Im Jemen sind bereits 900.000 Menschen an Cholera erkrankt – Foto: isna.ir

 
Vollblockade gegen den Jemen
 Seit einer Woche befindet sich der Jemen unter einer Totalblockade der Saudis. Nichts darf aus dem Ausland dorthin gelangen, nicht einmal Nahrungsmittel oder Medikamente. Selbst Hilfsorganisationen sind von dieser Strafaktion betroffen: Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) konnte nach eigenen Angaben eine Ladung Chlortabletten nicht einführen. Diese werden zur Trinkwasseraufbereitung genutzt und im Kampf gegen Cholera gebraucht. Im Jemen sind bereits 900.000 Menschen an Cholera erkrankt. Das IKRK rechnet nun damit, dass es bis Jahresende eine Million sein werden.
Hinzu kommen nach Angaben der Vereinten Nationen sieben Millionen Menschen, die von Hunger bedroht sind. Der Uno-Nothilfekoordinator Marc Lowcok warnt vor der „größten Hungersnot, die die Welt seit Jahrzehnten erlebt hat“. Die Lage sei nicht einmal mit der im Südsudan oder in Somalia vergleichbar. Am Montag hieß es, die Saudis wollten die Vollblockade aufheben, doch nur für ihre Verbündeten und die Hafenstadt Aden.
Ende des Stillhalteabkommens im Libanon
Die Saudis drehen die Eskalationsschraube weiter. Nach dem Jemen kommt nun der Libanon an die Reihe. Fast gleichzeitig mit dem Raketenbeschuss aus dem Jemen verkündete der libanesische Ministerpräsident Saad Hariri seinen Rücktritt – im saudischen Fernsehen. Das war mehr als eine Rücktrittserklärung. Es war zugleich das Ende eines Stillhalteabkommens zwischen dem Iran und Saudi-Arabien über den Libanon.
Diese unausgesprochene Übereinkunft war für das Land existentiell. Sie führte zu einer Art nationalen Versöhnung. Mit ihr hielt sich der Libanon vom syrischen Bürgerkrieg fern, der Sunnit Hariri wurde Ministerpräsident, die schiitische Hisbollah trat auf Geheiß Teherans in seine Regierung ein. Dieses Stillhalteabkommen ist nun Geschichte. Hariri hat inzwischen aus seiner saudischen Residenz ein zweites TV-Interview gegeben. Doch das bedeutet nicht das Ende der gefährlichen Krise. Er bestreitet, von den Saudis zum Rücktritt gezwungen worden zu sein, verspricht, bald in den Libanon zurückzukehren, und wiederholt seine Vorwürfe gegen den Iran und die Hisbollah
Ein umfassender Krieg
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