Das Ende des iranischen Hegemonieanspruchs im Irak

Seit dem Sturz Saddam Husseins hat die Islamische Republik Iran alles unternommen, um ihr Nachbarland Irak mit seiner schiitischen Mehrheit an sich zu binden. Doch der Vormarsch der radikalislamischen ISIS läutet nun das Scheitern der Irak-Politik Teherans ein. Steht dem Irak ein langjähriger Bürgerkrieg oder gar eine Teilung bevor? Was wird Teherans Haltung in beiden Fällen sein? Ein Gastbeitrag von dem Iran- und Nahostexperten Ali Sadrzadeh.    

„Es wird gefährlich kompliziert werden, die Krise wird sehr lange dauern, und nicht nur der Irak, sondern die gesamte Region steht vor einem Umbruch.“ Dieser Satz klingt für Zeitungsleser dieser Tage durchaus vertraut – er könnte dem Kommentar einer beliebigen Zeitung entnommen sein, eine kurze Analyse, die man zur Kenntnis nehmen, ablehnen oder ignorieren kann.
Doch dieser Satz entstammt keinem Zeitungskommentar. Er ist vielmehr eine besorgte Bestandsaufnahme, ein Alarmsignal, und manche sagen: das Eingeständnis einer gescheiterten zehnjährigen Politik. Gesprochen hat ihn der iranische Vizeaußenminister Hossein Amir Abdollahian Anfang Juli in Moskau. Dort war er in einer sehr wichtigen Mission. Offiziell ging es darum, wie Teheran und Moskau gemeinsam den irakischen Ministerpräsidenten Nuri al-Maliki unterstützen könnten. Es ging auch um die Lieferung russischer Kampfjets, die al-Maliki wenige Tage zuvor für seinen Kampf gegen den Vormarsch der radikalislamischen ISIS gefordert hatte. Immerhin dabei war die Mission des iranischen Vizeministers erfolgreich. Nur zwei Tage nach seiner Visite in Moskau meldete das renommierte Flugzeug-Blog „The Aviationst“, vieles deute daraufhin, dass fünf in Bagdad aufgetauchte Suchois samt Piloten aus iranischen Beständen stammten, denn die irakische Armee hat keine Luftwaffe und demnach auch keine Piloten. Ironie der Geschichte:Diese über 20 Jahre alten Jets aus dem Iran sind eigentlich nur Leihgaben des Irak. Saddam Hussein hatte sie 1991 in den Iran fliegen lassen, um sie dort vor dem US-Angriff zu schützen. Teheran behielt sie als Wiedergutmachung des achtjährigen iranisch-irakischen Krieges.
Der Sonderbeauftragte und die Badr-Armee

Hossein Amir Abdollahian: „Niemals werden wir die Teilung des Irak oder die Entstehung eines Kurdenstaats dulden!“
Hossein Amir Abdollahian: „Niemals werden wir die Teilung des Irak oder die Entstehung eines Kurdenstaats dulden!“

Ob die Jets auf eigene Rechnung geliefert wurden oder auf die Russlands, ist dabei ebenso ungewiss wie zweitrangig. Doch dieser eigenartige Winkelzug zeigt erneut, welche wichtige Rolle Abdollahian im iranischen Machtapparat spielt, wenn es um den Irak geht. Der 50-Jährige ist seit 20 Jahren im iranischen Außenministerium hauptsächlich für Irak-Politik zuständig. Er war zwar in diesen Jahren zeitweise Botschafter in vielen anderen arabischen Staaten. Doch sein offizieller Titel lautete stets „Sonderbeauftragter der Regierung für den Irak“. Das Nachbarland, über das er seine Doktorarbeit schrieb und in dem er in all diesen Jahren die Machtkämpfe mitbestimmte, ist und bleibt seine Hauptbeschäftigung. Seine besonderen Fähigkeiten und seine weitgehende Vernetzung im Irak zeigte sich 2003, als es nach dem Sturz Saddam Husseins darum ging, sofort das militärische Vakuum zu füllen, das die Amerikaner mit der Auflösung der irakischen Armee hinterlassen hatten. Innerhalb weniger Wochen musste die so genannte Badr-Armee in den Irak übergesiedelt werden, jene 10.000 Mann starke irakische Milizeinheit, die seit den achtziger Jahren im Iran bestens ausgebildet und ausgerüstet worden waren. Aus diesen einst vor Saddams Schergen geflohenen schiitischen Zivilisten hatten die Revolutionsgarden eine ideologisch und militärisch schlagkräftige Truppe geformt, die zum bestimmenden Faktor der späteren Entwicklung und der heutigen Katastrophe des Irak werden sollte. Wie selbstverständlich sitzen heute die einstigen Badr-Milizen in der entscheidenden Kommandoebene der irakischen Armee. „Mit der Badr-Armee wurde das Milizwesen zum Handwerk der Politik im Irak und nahm die Katastrophe ihren Anfang“, sagt der irakische Journalist Ghassan Ashur.
al-Maliki, Bühnenmeister des irakischen Dramas
Doch für den Iran war die Badr-Armee das militärische Rückgrat des politischen Erfolgs. Das Endziel dieser Politik hatte man in Teheran in verschiedenen Variationen formuliert: Bagdad sollte mit seiner schiitischen Mehrheit der iranischen Linie folgen. Man wünschte sich einen treuen Befehlsempfänger im Nachbarland und in Nuri al-Maliki fand man schließlich den idealen Mann, der sogar, wenn nötig, der Kleiderordnung der Islamischen Republik folgte. Während Saddams Herrschaft verbrachte er seine Exiljahre in Teheran und wenn er heute dort bei Ayatollah Khamenei Audienz hat, lässt er seine Krawatte zuhause. Und Khamenei weiß diese Ergebenheit zu schätzen. Mögen Obama und andere Politiker der westlichen Welt al-Malikis Verantwortung betonen und ihn zum Rücktritt auffordern, mögen die Iraker mehrheitlich in ihm den Bühnenmeister des irakischen Dramas sehen – all das ändert nichts an Khameneis Haltung zu al-Maliki, er hält weiterhin an ihm fest. Amerika wolle die legale Regierung in Bagdad zu Fall bringen, das werde man nicht zulassen, sagte Khamenei zwei Tage nach der spektakulären Einnahme der Stadt Mossul durch die ISIS. Diese Eindeutigkeit, diese politische Standortbestimmung war nicht nur gen Westen gerichtet. Sie sollte auch die vorsichtigen Signale der Regierung Rouhanis, man könne auch mit einer anderen Person als al-Maliki leben, zum Verstummen bringen – was auch geschehen ist.
Großayatollah Sistani als Schreckgespenst
Irans Staatsoberhaupt Khamenei (re.) hält weiterhin an Iraks Reigerungschef al-Maliki fest
Irans Staatsoberhaupt Khamenei (re.) hält weiterhin an Iraks Reigerungschef al-Maliki fest

Was Khamenei und al-Maliki verbindet, sind ihre Abneigung gegen die USA und ihre Distanz zum Großayatollah Sistani. Der über die Grenzen des Irak hinaus angesehene 84-Jährige ist der bedeutendste Geistliche im Irak, dessen Autorität von fast allen Gelehrten der schiitischen Welt akzeptiert wird. Doch Sistani ist ein vehementer Gegner des Prinzips der Velayate Faghih, also der Herrschaft der Gelehrten, die im Iran als unantastbare Staatsräson gilt. Seine Lehren rütteln an den  religiösen Grundfesten der Islamischen Republik. Sistani, selbst geborener Iraner, darf deshalb in der iranischen Stadt Qom zwar ein kleines Büro unterhalten, aber sonst nichts von dem tun, was ein Großayatollah üblicherweise tut: Gefolgsleute betreuen, religiöse Abgaben entgegennehmen oder Fatwas erlassen. Den Irak kontrollieren, aber dessen schädliche Einflüsse, die von den Kurden, Sunniten oder eben Sistani ausgehen, möglichst abwehren – das war die iranische Strategie, die bis vor Kurzem auch funktionierte.
Das Blatt hat sich längst gewendet
Es sind diese Tatsachen, die dazu führen, dass amerikanische Kommentatoren in regelmäßigen Abstände frustriert schreiben, man habe Saddam gestürzt, um anschließend den Irak auf dem Silbertablett dem Iran auszuliefern. Doch das Blatt scheint sich zu wenden. Kurdenführer Masud Barzani bringt es auf den Punkt: Der alte Irak aus der Zeit vor dem ISIS-Vormarsch ist Geschichte, es gibt jetzt eine Zeit davor und eine Zeit danach.
Die unverhohlene Einmischung des Iran, die nach und nach als Dominanz empfunden wurde, führte endlich zur völligen Entfremdung der irakischen Sunniten von der Zentralmacht. Die Episode jener Depesche, die Qassim Soleimani, Kommandeur der iranisch Quds Brigaden, 2008 dem US-General David Petraeus ausrichten ließ, ist immer noch in vielen iranischen und irakischen Zeitungen zu lesen: „Sie sollten wissen, dass ich, Qassim Soleimani, die iranische Politik steuere, was den Irak, den Libanon, Gazastreifen und Afghanistan betrifft“. Diese Botschaft an den damaligen Oberbefehlshaber der amerikanischen Truppen im Irak verdeutlicht, warum vieler Iraker das Verhalten des Nachbarlandes als eine alltägliche und spürbare Dominanz empfinden, die nun in eine totale Katastrophe zu münden droht. Der provokante iranische Hegemonieanspruch verursachte auch die Frustration jener irakischen Schiiten, die sich erst als Araber, dann als Schiit empfinden.
Die Liste prominenter Schiiten, die einst Irans Verbündete waren und nun um ihre nationale Identität besorgt sind, ist lang: der Ex-Ministerpräsident Ayad Allawi, der einflussreiche Prediger Moktada al-Sadr oder der hochangesehene Ammar Hakim gehören zu jenen Schiiten, die offen in- und außerhalb des Bagdader Parlaments gegen al-Maliki opponieren. Sie führen ihren Kampf gegen ihn nicht allein mit Worten, jeder von ihnen hat auch eine eigene Miliz.
Syrischer Bürgerkrieg als Blaupause
Qassem Soleimani: Ich steuere die iranische Politik, was den Irak, den Libanon, Gazastreifen und Afghanistan betrifft!
Qassem Soleimani: Ich steuere die iranische Politik, was den Irak, den Libanon, Gazastreifen und Afghanistan betrifft!

Die einst starke Badr-Armee hat sich inzwischen wegen interner Differenzen in verschiedene Teile gespalten. Mit der Zerfaserung der Schiiten stieg die Zahl ihrer Milizen. Iranische Revolutionsgarden gründeten ihrerseits mehrere paramilitärische Einheiten, die lokal in verschiedenen Regionen Iraks agieren, man spricht von mindestens 14 schiitischen Milizorganisationen, die vom Iran finanziert, ausgerüstet und befehligt werden. Die wichtigste von ihnen ist Asa’ib Ahl al-Haq, die nun das Kommando im Kampf der Schiiten gegen die ISIS-Sunniten übernehmen will. Wenn die Kommandeure der iranischen Revolutionsgarden über den Krieg referieren, gewinnt man unweigerlich den Eindruck, dass bei den Operationen die paramilitärischen Einheiten unverzichtbar sind, selbst wenn sie über die Bekämpfung der inneren Unruhen sprechen: „Allein auf die klassische Armee setzen reicht nicht. Man braucht im Krieg auch Milizen, die sehr wichtige und stabilisierende Aufgaben übernehmen. Milizen sind unverzichtbar, nur so kann man eine gewonnene Schlacht in einen nachhaltigen Sieg verwandeln, so haben wir in Syrien gesiegt. Deshalb ist Syrien heute aus der Gefahrenzone heraus. Es war die iranische Erfahrung, die mit unserer Hilfe dort fruchtete, und das werden wir auch im Irak tun“, sagte Anfang Juli Hassan Hamedani, Kommandeur der iranischen Revolutionsgarden, in einer Sitzung der Milizen der Stadt Hamadan. Es sind solche Äußerungen, derentwegen viele Iraker meinen, es sei nicht allein George W. Bush gewesen, der die irakische Nation zerstörte. Auch das Nachbarland Iran habe dabei kräftig mitgeholfen. Doch ob die Kombination von Milizen und regulärer Armee, die dieser Tage in Syrien probiert und im Iran als Sieg verkauft wird, ein geeignetes Rezept für den heutigen Irak sein kann, wird die Zukunft beweisen müssen – eine Zukunft, die sehr fern ist.
Langer Bürgerkrieg oder Teilung oder beides
Doch solche Überlegungen, die durch die Köpfe der iranischen Revolutionsgardisten geistern, bedeuten nicht anders als einen langen und blutigen Bürgerkrieg ohne Sieger. Im Irak wird es jedenfalls viel komplizierter, als sich manche Kommandeure in der iranischen Provinz vorstellen. Die selbstbewusste kurdische Bevölkerung, die inzwischen ihr eigenes Autonomiegebiet erfolgreich verwaltet, strebt dieser Tage unbeirrt nach Unabhängigkeit. Das Parlament in Erbil wurde aufgefordert, die Pläne für ein baldiges Referendum darüber vorzubereiten. Der kurdische Präsident Barzani ist dieser Tage in allen TV-Kanälen dieser Welt von Amerika bis Japan zu sehen, wo er unablässig seine Entschlossenheit verkündet, die Unabhängigkeit zu verwirklichen. Bleibe die irakische Politik wie bis jetzt, werde ein Kurdenstaat unvermeidbar, ist die Kernaussage Barzanis in zahlreichen Interviews. Deshalb beginnt der anfänglich freundliche Ton Teherans gegenüber den Kurden drohend zu werden. „Niemals werden wir die Teilung des Irak oder die Entstehung eines Kurdenstaats dulden“, sagte Vizeaußenminister Abdollahian am 6. Juli. Doch eine Veränderung der irakischen Politik, genauer gesagt ein Rücktritt des irakischen Ministerpräsidenten ist nicht in Sicht. Die letzte Parlamentssitzung am vergangenen Dienstag musste verschoben werden, weil die Abgeordneten sich nicht einmal auf die Wahl eines Sitzungspräsidenten einigen konnten, geschweige denn auf einen Ministerpräsidenten. Al-Maliki ist weder zum Rücktritt bereit noch zur Bildung einer Regierung der nationalen Einheit. Er fühlt sich offenbar stark genug, alles zu überstehen, nicht nur wegen der 92 Stimmen seiner Fraktion in einem Parlament mit 352 Sitzen. Er hat seinen eigentlichen Machtapparat, die Geheimdienste und ihm nahestehende Milizen, gut im Griff. Hinzu kommt die wertvolle Unterstützung aus Teheran – Militärberatung, Prediger, Flugzeuge und Milizenausbildung. Bleiben Maliki und mit ihm seine Protégé in Teheran so wie bis jetzt, dann scheint ein langer Bürgerkrieg unvermeidbar, an dessen Ende eine Teilung des Landes steht, die entlang der religiösen und ethnischen Linie verlaufen könnte. Und selbst das ist nicht sicher.
  ALI SADRZADEH