Proteste im Iran: „Aufräumen“ an den Hochschulen
Expert*innen schlagen Alarm. Unter anderem monierte der Verband iranischer Universitätsdozent:innen in der vergangenen Woche in einer Erklärung die „Massenentlassungen“ und „Masseneinstellungen“ von Dozent*innen aber auch die „polizeiliche Atmosphäre an den Hochschulen“ und die „Beschränkung der Unabhängigkeit der Universitäten“. Mohammad Reza Aref, ein bekannter Politiker aus dem sogenannten Reformisten-Lager und ehemaliger iranischer Vizepräsident, trat in der vergangenen Woche aus Protest aus dem Auswahlausschuss der Dozent*innen der Eliteuniversität Sharif zurück.
Die Befürchtungen der Expert*innen lauten: Die Maßnahmen könnten zu einem „freien Fall“ der iranischen Universitäten in Weltranglisten, zur verstärkten Abwanderung von Talenten und zu akademischer Frustration führen. Ein prominentes Beispiel dafür: Ali Sharifi Zarchi. Am vergangenen Wochenende gab der vor kurzem entlassene Dozent der Teheraner Eliteuniversität Sharif auf dem Kurznachrichtendienst X (Twitter) bekannt, zum Vorsitzenden des wissenschaftlichen Komitees der International Olympiad in Informatics gewählt worden zu sein. Zarchi hatte sich während der landesweiten Unruhen des vergangenen Jahres an die Seite der Protestierenden gestellt und die Öffentlichkeit über Verhaftungen von Studierenden informiert.
Die Machthaber zeigen sich jedoch unbeeindruckt. Ein regimetreuer Dozent an der Teheraner Universität bezeichnete die Entlassungen als „normal und gängig“. Die Leistungen würden ständig beobachtet und viele Verträge würden nicht verlängert, reagierte er auf Kritik. Die erzkonservative Teheraner Tageszeitung Kayhan forderte letzte Woche strengere Maßnahmen gegen „einige Dozent*innen“, die während der Unruhen nach dem Tod von Jina Mahsa Amini „Öl ins Feuer der Aufrührer gegossen haben“.
Sehnsucht nach Fügsamkeit
Die aktuelle „Säuberungswelle“ an den Universitäten erinnert stark an die Startphase der sogenannten Kulturrevolution im Iran. Die 1980 – kurz nach der Islamischen Revolution – vom damaligen Revolutionsführer und Gründer der Islamischen Republik Ayatollah Ruhollah Chomeini ausgelöste politische Kampagne sollte das iranische Bildungssystem islamisieren. Innerhalb von drei Jahren wurden damals über 700 Professor*innen entlassen und Tausende Studierende zwangsexmatrikuliert. Die Restriktionen und Entlassungen dauern seither an und erleben nicht selten neue Höhepunkte – darunter in der Amtszeit des ehemaligen Präsidenten Mahmoud Ahmadinedschad (2005 – 2013) so wie aktuell unter der Regierung Ebrahim Raisis.
Student:innen der Beheshti-Uni in #Tehren am 29. Okt. Die Parole richtet sich an den strenggläubigen, islamischen Mann. Studenten rufen: "Du bist ein Lustmolch, du bist infam!" Die Studentinnen: "Ich bin eine freidenkerische Frau".#IranProtests2022 #Iran #Mahsa_Amini #مهساامینی pic.twitter.com/IoP3ot0FoJ
— Iran-Journal (@iran_journal) October 29, 2022
Die politische Kampagne soll den Einfluss der Religion in der Gesellschaft stärken und die erzielten Ergebnisse der Kulturrevolution konsolidieren. Mit immer intensiveren Maßnahmen steuert die Islamische Republik gegen den Kontrollverlust. Die Machthaber sprechen vier Jahrzehnte nach der Regimegründung nach wie vor von der „Notwendigkeit des Hervorbringens einer revolutionären Generation“. Das soll durch Kulturrevolution, ständige „Säuberungen“ und eine allgemein engstirnige Bildungspolitik erreicht werden. Besonders im Fokus stehen die Geisteswissenschaften. Das religiöse Oberhaupt der Islamischen Republik gilt als großer Kritiker der „westlichen Geisteswissenschaften“ und ist ein ausgewiesener Verfechter der sogenannten „islamischen Geisteswissenschaften“.
Teile des Regimes litten unter einer Art „Hochschulphobie“, insbesondere im Bereich der Geisteswissenschaften, stellte der ebenfalls suspendierte Universitätsdozent Dariush Rahmanian in einem Interview mit dem persischsprachigen Internetportal Radio Farda in Prag fest. Aber auch andere kulturelle Staatsorgane müssen zur „Entstehung der revolutionären Generation“ beitragen. Ende Juli gab das Ministerium für Kultur und islamische Führung bekannt, 400 zusätzliche Stellen besetzen zu wollen – durch junge, aktive Regimeanhänger*innen.
Die propagandistische Kulturpolitik der Islamischen Republik wird von vielen Kritiker*innen jedoch als „gescheitert“ und „kontraproduktiv“ bewertet. Das zeige sich daran, dass ausgerechnet die junge Generation, die durch ein postrevolutionär „islamisiertes“ Bildungssystem indoktriniert werden sollte, seit einem Jahr gegen die Kleidervorschriften protestiert und somit an einem Eckpfeiler des Wertesystems der Islamischen Republik rüttelt.
Die Massenentlassungen beziehungsweise der Druck auf Studierende sollen allerdings auch eine abschreckende Wirkung zeigen und kurz vor dem Todestag von Jina Mahsa Amini am 16. September Unruhen vorbeugen. Vorladungen und Verhaftungen von Aktivist*innen und Familienmitgliedern der getöteten Protestierenden des vergangenen Jahres schlagen in dieselbe Kerbe. Auch das werde sich als Irrtum erweisen, ist sich der damalige Arbeitsminister Ali Rabii sicher. „Entgegen dem angestrebten Ziel, Universitäten unpolitisch zu machen und dort eventuellen Protesten vorzubeugen, werden sich nach solchen Entscheidungen vermehrt Proteste bilden“, konstatierte er in seinem Zeitungsbeitrag am Wochenende.♦
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