Das Virus, die Macht und die Identität
Der Monat der Identität
Im schiitischen Volksglauben hat Imam Hussein den Beinamen سید الشهدا – „Herr der Märtyrer“. Er ist in vieler Hinsicht mehr als Jesus bei den Christen. Wie Jesus steht auch Hussein für Gerechtigkeit, auch er wird Opfer von Feinden, die ihn unbarmherzig töten. Doch Hussein ist ein Krieger, ein mutiger und entschlossener Kämpfer, der sich gegen einen ungerechten Herrscher erhebt, obwohl er weiß, dass er und seine Mitstreiter getötet werden und seine Familie in Gefangenschaft gerät.
Seit Jahrhunderten werden in den ersten zehn Tagen des Monats Muharram in oft blutigen Straßenprozessionen Husseins letzte Tage mit Weinen und Klagen dargestellt. Ein alljährlich wiederkehrendes Massenevent sondergleichen, das inzwischen zu einer wahren Industrie geworden ist. Diese kriegerische Traditionspflege prägte im Laufe der Zeit die schiitische Identität. Hussein mutierte zu einem Revolutionär, einem Helden, den jeder nachahmen muss. Nur vor diesem Hintergrund lässt sich verstehen, warum Khomeini sagte, dass er alles, was er habe, Muharram verdanke. Er sagte die Wahrheit. Mit diesem Satz fasste Khomeini seine eigene Lebenserfahrung zusammen.
Ein Monat der Revolution
Der 3. Juni 1963 war ein Ashura-Tag. Im ganzen Land gab es Straßenprozessionen. In der Stadt Qom bestieg am Nachmittag in der religiösen Feizeih-Schule ein bis dahin weitgehend unbekannter Geistlicher die Kanzel. Er hielt eine Brandrede über die nie endende revolutionäre Mission von Imam Hussein.
In seiner Predigt tat der Geistliche etwas Ungeheuerliches. Er griff den Schah persönlich an, verdammte dessen weiße Revolution und mahnte ihn zur Reue sowie zur Rückkehr zum Islam. Damit betrat Khomeini die politische Bühne – im Iran und über das Land hinaus. Zwei Tage später wird er verhaftet, später geht er ins Exil. Doch in diesen Exiljahren werden Ashura-Tage zu solchen, an denen nicht nur an Husseins Aufstand gegen den Herrscher, sondern auch an den exilierten Khomeini gedacht wird. 25 Jahre später, im Revolutionsjahr 1978, wird Ashura zu einer politischen Demonstration mit Millionen Teilnehmern, Khomeinis Bilder überall. Den Rest kennen wir.
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Khameneis „Jakobsweg“
Khomeinis Nachfolger Ali Khamenei ging einen großen Schritt weiter und versuchte, den alljährlichen Straßenprozessionen eine neue, Grenzen überschreitende Dimension zu geben. An Husseins Gedenktag sollten Schiiten aus allen Ländern der Welt nach Kerbela in den Irak pilgern, natürlich zu Fuß und am besten barfüßig. Eine Art schiitischen Jakobsweg rief Khamenei ins Leben. So wurde man in den letzten Jahren Zeuge archaischer und aufregender Szenen. Tausende Schiiten aus Afghanistan, Pakistan und anderen Ländern sammelten sich zunächst im Iran und gingen dann gemeinsam mit Hunderttausenden Iranern zu Fuß über die Grenze Richtung Kerbela zum Grab Imam Husseins. Khameneis Konterfei dominierte wie Meilensteine den Weg. Entlang des Einhundert-Kilometer-Events wurden Wasser und Verpflegung verteilt. Eine politisch-religiöse Machtdemonstration, die die gesamte Welt, vor allem die Sunniten beeindrucken sollte.
Und sie wurde zu einer religiöse Machtprobe zwischen Teheran und Riad. Setzten sich die saudischen Herrscher jedes Jahr mit der Hajj und Millionen Mekka-Pilgern in Szene, so wartete Khamenei mit seiner Million schiitischer Pilger auf, die zu Fuß nach Kerbela liefen.
Die Doppelmacht verschwindet aus der Öffentlichkeit
Doch all das klingt nun wie eine Geschichte aus der Vorzeit, der Vor-Corona-Ära. Das Virus zwang die Saudis in diesem Jahr, die Pilgerfahrt nach Mekka zu verbieten und die Hajj auf etwa 1.000 Personen aus dem eigenen Land zu beschränken. Und im Iran?
Die Prozessionen von ersten bis zum zehnten Tag des Monats Muharram sollten in die virtuelle Welt verlegt werden und vor allem im Fernsehen stattfinden. Doch nicht jeder Gläubige zeigte Einsicht. Trotz dringlicher Warnungen versammelten sich allabendlich in manchen iranischen Moscheen Hunderte, die weinend und klagend Husseins gedachten. Das Ergebnis: Die Zahl der „roten Zonen“ mit steigenden Corona-Infektionszahlen steigt seither unaufhörlich. Ob im kommenden Schuljahr die Schulen wieder eröffnen, ist deshalb mehr als fraglich.
Khamenei selbst vermeidet seit sechs Monaten die Öffentlichkeit. Er zeigt sich nur ab und zu im Fernsehen. Auf die beeindruckende Demonstration seiner Doppelmacht muss er verzichten. Auch den Zug der Millionen Pilger zum Gedenken am 40. Tag nach dem Tod Husseins wird es in diesem Jahr nicht geben. Die Grenzen zum Iran blieben dicht, ließ die Bagdader Regierung verkünden.♦
© Iran Journal
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