Buchrezension: Exil und inneres Licht
Eskandar Abadi führt in seinem Roman „Aus dem Leben eines Blindgängers dem Leser eine bunte Welt individueller und gesellschaftlicher Erlebnisse und Begebenheiten innerlich vor Augen und verweist so auf ein generelles ästhetisches Paradoxon der Literatur – schreibt Markus Lorenz in seiner Rezension.
Habent sua fata libelli: Der vielzitierte antike Sinnspruch hebt nicht nur prägnant die Durchlässigkeit zwischen dem Inhalt eines Werks und der Vita seines Autors hervor. Dem Literaturwissenschaftler dient er auch als Lehrbuchbeispiel für die Rhetorik metonymischer Verschiebungen: Die gewichtige Kategorie des Schicksals (oder: des Götterspruchs) wird von dem Subjekt des Erlebens auf dessen Werk, auf sein ‚geistiges Kind‘ übertragen.
In Eskandar Abadis faszinierendem Roman Aus dem Leben eines Blindgängers ist dieses geistige Kind – in den Fußstapfen eines Urmotivs der Weltliteratur – gleichsam ein Findelkind, ein infolge der politischen Wirren der iranischen Revolution des Jahres 1979 ‚ausgesetztes‘ Kind, ein Fundstück im Treibgut aufgehobener Exilgegenstände. Die Rede ist von einem Manuskript, das der über die Türkei entkommene iranische Exil-Intellektuelle Musa in einem Koffer mit nach Deutschland gebracht hat und das in autobiographischer Ich-Form von den Schicksalen von Musas geburtsblindem Freund Nader erzählt. Ins Deutsche übersetzt, soll die mit gekonnt platzierten Elementen des Bildungs- und Schelmenromans durchwirkte Jugendgeschichte nun buchstäblich gleichwie im metaphorischen Sinne das literarische Licht der Welt erblicken. Für dieses Unternehmen erweist sich das Prinzip der poetischen Brücke, des Transfers zwischen biographischem Material und dessen literarischer Formung – also das Schicksal des Buches in einem doppelten Sinn –, als Strukturprinzip.
Mit unprätentiöser Stilsicherheit führt Abadis Roman dem Leser eine bunte Welt individueller und gesellschaftlicher Erlebnisse und Begebenheiten innerlich vor Augen und verweist so mit verblüffender Selbstverständlichkeit auf ein generelles ästhetisches Paradoxon der Literatur. Ungeachtet der personalen Erzählperspektive eines blinden Ich-Erzählers sowie der Tatsache, dass die Geschichte zu einem großen Teil in der Gesellschaft von Blinden situiert ist, vergisst man als Leser über der mit epischer Detailfreude zu unmittelbarer Anschauung gelangenden erzählten Welt über weite Strecken, dass die Handlung aus einem Blickwinkel dargeboten wird – den visuellen Metaphern vermag man nicht zu entrinnen –, dem es am Einfall des äußeren Lichts mangelt.
Nun ist zwar der Mythos des blinden Dichters, nicht zuletzt infolge der wohlvertrauten Konstruktion eines archetypischen homerischen Epikers, ein Topos der Innerlichkeit poetischer Anschauung. Doch Abadis Roman überzeugt gerade durch eine Schlichtheit realistischen Erzählens, die zwar die symbolischen Bezüge nicht scheut, es dabei aber geschickt vermeidet, eine klischeehafte symbolische Überfrachtung der Blindheit in die literarische Darbietung hineinzuinterpretieren. An solchen metaphysischen Überhöhungen, in negativer wie in positiver Hinsicht, mangelt es mitnichten in der Geschichte von Nader Bandaris Kindheit und Jugend unter dem Schah-Regime. Während die einen Naders Eltern – namentlich seine Mutter – als Makelbehaftete, von Gott Gestrafte behandeln (bereits Naders ältere Schwester Nasrin wurde blind geboren), wollen andere in ihren blinden Mitmenschen von Gott Erwählte und in schicksalhafter Erhabenheit Abgesonderte erblicken. Das im Kontext der literarischen Tragödie tradierte strukturelle Motiv einer paradoxen Inversion, wonach die Sehenden verblendet sind, während der Blinde innerlich die Zusammenhänge und Schicksale schaut, findet in Abadis Roman pikareske Reflexe, indem die blinden jugendlichen Protagonisten in trickreicher Schelmenromanmanier die Geringschätzung oder die in Rücksicht verkleidete schonungsvolle Herablassung der Sehenden gegenüber den Nichtsehenden demaskieren und transzendente oder religiöse Stilisierungen ihrer Verfassung in Gelächter auflösen.
Traumatischen Demütigungen
Doch nicht immer werden die anekdotischen Konflikte komödiantisch aufgelöst; besonders Naders frühe Kindheitserinnerungen sind mit traumatischen Demütigungen verbunden. Und gerade hier zeigt sich das erzählerische Strukturprinzip der ernüchternden Entthronung metaphysischer Überhöhungen, wobei zugleich in solcher Desillusionierung die symbolische Relevanz der Verblendung der Sehenden doch wieder zum Zuge kommt. So lauscht Nader als Kind im christlichen Gottesdienst einer Predigt, die das Blindsein der Heiminsassen als deren gotteskindschaftliche Nichtbekanntschaft mit der Sünde interpretiert, da Sehen-Können mit Wissen-Wollen, tatsächlichem Wissen und darum mit dem Sündenfall in enger Verbindung stehe. „[Der Pfarrer] erzählte uns, dass Wissen wie Sehen sei und Glauben Blindsein, aber dass Wissen uns schuldig mache und nur der Glaube uns retten könne. Auch Kinder seien wie Blinde, unschuldig und ohne Sünde“ (S. 73). Als nach der Predigt der Klingelbeutel für Spenden herumgereicht wird, findet der blinde Knabe Nader ein kindliches, interesseloses Wohlgefallen am bloßen Klang der Geldmünzen und nimmt ohne böse Absicht einige von ihnen an sich. In der Folge wird er mit gnadenloser Härte als habgieriger Dieb bestraft, und die salbungsvolle philosophisch-pädagogische Rhetorik der sehenden Erwachsenen erweist sich als hohler Schein.
Was nach der Entfernung der Brillen und Gesichtslarven einer von Vorurteilen und Illusionen entstellten Sicht der „Augengenossen“ auf die Blinden bleibt, ist eine Jugendgeschichte, von der man fast sagen könnte, sie sei wie jede andere – wenn da nicht wiederum die Kategorie des Unerhörten wäre, die die Literatur überhaupt erst interessant macht und die nicht nur eine Frage der Bedeutungsträchtigkeit äußerer Ereignisse, sondern in erster Linie eine solche der Kunstfertigkeit der erzählerischen Darbietung ist. Und hier wird der Leser von der packend erzählten Jugendgeschichte Naders unweigerlich in den Bann gezogen. Die frühen Erfahrungen sexueller Übergriffe und physischer Gewalt im Blindenheim, die religiöse Indoktrination im familiären Umfeld ebenso wie in christlichen Internaten, ferner die als permanenter Sozialisationsfaktor wirksame Notwendigkeit, sich aufgrund der physischen Devianz im eigenen Anderssein zu behaupten, bewirken nicht nur eine Schulung in pikaresken Überlebensstrategien – sie zeitigen in dem jungen Nader auch die Entwicklung und Reifung einer reichen inneren Welt wissenschaftlicher Betätigungsfelder und ästhetischer Horizonte. Im künstlerischen Bereich sticht Naders Liebe zum Violinspiel und zur Musik hervor, die nicht nur zu frühen Konflikten mit dem religiösen Vater, sondern später auch zu Reibungen und lebensgefährlichen Situationen im Zuge des Machtgewinns der Islamisten führt.
Die Revolution frisst ihre Kinder
Für Nader, den ethisch passionierten Intellektuellen, können auch die zarten Blüten und frühen Bande jugendlicher Liebesgeschichten, ein integraler Bestandteil jedes Bildungs- und Entwicklungsromans, nicht frei bleiben von den düsteren Schatten, die Politik und Geschichte im Zuge der Revolutionsereignisse des Jahres 1979 auf das Privatleben der Protagonisten werfen. Er, der gemeinsam mit Kommilitonen und progressiv-feministischen Kommilitoninnen marxistische Gedanken in studentischen Zirkeln diskutiert, muss miterleben, wie die Islamisten sich brutal gegen die Linken wenden, die wie sie gegen das Schah-Regime opponierten; seine Freundin Nuschin verliert er aus den Augen. In den nunmehr von religiösen Revolutionswächtern und Mitläufern betriebenen Foltergefängnissen, denen er – mit wiederum in der Tradition des Schelmenromans stehender Gewandtheit – zu entkommen vermag, wird Nader dessen ansichtig, was ihm bisher in erster Linie als literarischer Topos geläufig war: dass die Revolution ihre Kinder frisst.
Es bleibt der resignative Gedanke an die Emigration als letzten Ausweg. „Ich stellte mir vor, wie das Wasser in die Ferne floss, in eine Gegend, wo man frei leben, Musik machen und ohne Geheimdienst, Militär und Fanatismus leben konnte. Ich stellte mir vor, wie es sei, meine konfiszierte Geige wiederzuhaben, um meiner Klage über den Verlust Nuschins wenigstens musikalisch Ausdruck verleihen zu können“ (S. 280). Doch aus Europa wird Nader abgeschoben und zurück in den Iran gebracht, von wo aus allein seinem Freund Musa die Flucht gelingt. Damit schließt sich ringkompositorisch die autoreflexive Rahmenhandlung zu Musa, dem mit dem Manuskript von Naders Bildungs- und Jugendgeschichte die zwar wohlkomponierten, gleichwohl im Medium der Mnemosyne der Flüchtigkeit anheimgegebenen Spuren seines Freundes Nader als literarisches Postulat anvertraut bleiben. Das Ergebnis ist ein mitreißender Roman, den man unbedingt lesen sollte.♦
Neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit arbeitet Dr. Eskandar Abadi als Journalist, Musiker und beeidigter Dolmetscher und Übersetzer.