Berlinale: Auferstehung der Legende Scheherazade

Der Film 1001 Frames von Mehrnoush Alia zeigt mehr als ein Casting – er spiegelt das Leben junger Iranerinnen wider. Während sie für die Rolle der Scheherazade vorsprechen, offenbaren sie intime Details über familiären Druck, gesellschaftliche Kontrolle und ihren Wunsch nach Freiheit.

Von Nasrin Bassiri


Der Film „1001 Frames“ der iranisch-amerikanischen Filmemacherin Mehrnoush Alia basiert auf einer Legende aus „Tausendundeiner Nacht“. Der mächtige König Shahryar wird von seiner Frau betrogen. Aus Rache lässt er sie hinrichten und verbringt fortan jede Nacht mit einer Jungfrau, die er bei Sonnenaufgang töten lässt – bis die kluge und einfallsreiche Scheherazade mit ihrer Erzählkunst und ihrem Schöngeist sein Herz gewinnt und ihn schließlich zähmt.

Ein Film zwischen Fiktion und Realität

Mehrnoush Alia, die aus dem Iran stammt und in den USA studiert hat, hat nach mehreren Kurzfilmen ihren ersten Spielfilm 1001 Frames in ihrem Geburtsland gedreht. Der im dokumentarischen Stil gedrehte Spielfilm spielt im Studio eines fiktiven renommierten Regisseurs. Dort werden junge Frauen für die Rolle der Scheherazade gecastet. Dabei erhalten die Zuschauer*innen tiefe Einblicke in das Leben junger Frauen im Iran. Der Schauspieler, der den Regisseur verkörpert, drängt die Frauen dazu, sich seelisch zu entblößen und ihre Geheimnisse vollständig preiszugeben.
In der ersten Szene liegt eine Frau auf dem Boden des Studios. Man sieht einzelne Teile ihres Körpers und hört zweideutige Geräusche. Jemand schnüffelt oder atmet schwer. Nach und nach treten weitere Körperpartien ins Blickfeld, während die Laute zunehmend an die eines Menschen erinnern, der kurz davor ist zu schreien, sich jedoch nicht traut. Es bleibt unklar, was sich hier genau abspielt.
In weiteren, ähnlich verstörenden Szenen wird deutlicher, dass eine Frau belästigt wird. Offenbar hat sie eine Aufgabe erhalten: Sie liest einen Text vor, der auf einem Blatt Papier steht. Die Kamera fokussiert ihr Gesicht und ihren Oberkörper. Der Regisseur ist nur schemenhaft als Kontur im Hintergrund zu erkennen, seine Bewegungen sind kaum wahrnehmbar. Doch das Gesicht der Frau verzieht sich, als spüre sie körperlichen Schmerz. Ihre Stimme zittert. Der Mann hinter ihr verharrt in seiner Position, während die Zuschauer*innen vermuten, dass sie entweder gleich aufspringen und fliehen oder in Tränen ausbrechen wird.

MeToo und Frau, Leben, Freiheit: Die politische Dimension

Mehrnoush Alia erklärte bei der Premiere im Zoopalast, dass sie den Film unter dem Einfluss der MeToo-Bewegung sowie der Frau, Leben, Freiheit-Proteste entwickelt habe.
Die MeToo-Bewegung hat inzwischen auch die iranische Filmbranche erfasst: Rund 500 Frauen aus der Filmbranche haben sich zusammengeschlossen, um gegen sexuelle Übergriffe in der Branche zu protestieren. Diese Initiative hat eine MeToo-ähnliche Bewegung innerhalb der iranischen Filmszene ausgelöst.
Alia lebt in den Vereinigten Staaten. Gemeinsam mit den Schauspielerinnen ihres Films, die alle in Iran leben, ist es ihr gelungen, im Einklang mit Frauen der iranischen Filmbranche ein solidarisches Zeichen gegen Belästigung und Missbrauch zu setzen. Im März 2022 organisierten sich Frauen aus der iranischen Filmindustrie erstmals öffentlich gegen sexuelle Gewalt. Zu Beginn schlossen sich rund 300 Frauen, darunter namhafte Schauspielerinnen und Filmschaffende, dieser Bewegung an, um gemeinsam gegen sexuelle Übergriffe und Gewalt vorzugehen.
Der raffinierte Schnitt der Regisseurin sorgt dafür, dass die Spannung während der gesamten eineinhalb Stunden kein einziges Mal nachlässt.Die Schauspielerinnen scheinen nicht nur Rollen zu spielen, sondern sich selbst im wirklichen Leben zu imitieren – und liefern dabei herausragende Leistungen. Sie werden von den Ängsten eingeholt, die sie in ihren Familien und auf der Straße erleben, und bringen die dunkelsten Winkel ihres Lebens zum Vorschein.

Momente der Offenbarung

Foto: Berlinale

Einige Beispiele verdeutlichen die beklemmende Atmosphäre des Films: Eine der Frauen wird auf Befehl des Regisseurs im Film aufgefordert, den Inhalt ihres Rucksacks auf den Boden zu schütten. Darunter kommt ein schwarzer Schleier zum Vorschein. Das Mädchen gesteht, dass sie im Viertel, in dem sie bei ihrem Großvater wohnt, den Schleier trägt – auf dessen ausdrücklichen Wunsch. Als der Regisseur sie fragt, ob es für sie in Ordnung sei, vor der Kamera ohne Kopfbedeckung zu sitzen, antwortet sie entschlossen: „Ja!“ Auf weitere Nachfragen erzählt sie, dass ihre Mutter starb, als sie noch ein kleines Kind war. Schließlich kommt heraus: Ihr Großvater hat ihre Mutter erwürgt. Als Test soll sie diese Szene vor laufender Kamera nachspielen.
In einer weiteren Szene fragt der Regisseur eine Teenagerin, warum sie so leidenschaftlich Schauspielerin werden wolle. „Das ist das Einzige, was ich wirklich kann“, antwortet sie. Als er nachhakt, warum sie das glaube, erklärt sie: „Weil ich es jeden Tag tue. Von frühmorgens bis spät in die Nacht. Ich stehe ständig unter Druck – egal ob bei meiner Mutter oder bei meinem Vater. Meine Eltern sind getrennt, und jeder hat etwas an mir auszusetzen. Hier kann man nicht einmal frei entscheiden, was man anzieht.“

Schauspiel als Überlebensstrategie

Kannst du mir ein Beispiel dafür geben, wann und wie du schauspielerst?“
„Ich lebe teils bei meiner Mutter, teils bei meinem Vater. Einmal war er für einen Monat verreist, doch ich habe meiner Mutter nichts davon erzählt. Ich bin wie gewohnt drei Tage lang zu seinem Haus gegangen. Dort hatte ich freie Hand und konnte alles tun, wonach mir das Herz stand.“
„Und was hast du gemacht?“
„Fragen Sie lieber, was ich in diesen Tagen nicht gemacht habe!“
Die junge Frau hat eine 14-stündige Busreise hinter sich, nur um nach Teheran zu kommen und am Casting teilzunehmen. In ihrem Rucksack trägt sie die nötigsten Habseligkeiten – bereit, nicht zurückzukehren, falls sie die Rolle bekommt.

Wenn das Spiel zur Gefahr wird

Am Ende des Castings beginnt der Regisseur, den naiv und verletzlich wirkenden Frauen Avancen zu machen. Er bietet ihnen an, im Studio zu bleiben und dort zu übernachten. Er verspricht, sie zu unterstützen, ihnen zu Reichtum und Ruhm zu verhelfen. Doch wenn sie sich nicht darauf einlassen, lässt er die Tore des Studios schließen und hält die Frauen dort fest.

Foto: Berlinale

Ein Ende mit Hoffnung?

Ein Moment des Aufatmens – und doch bleibt die Spannung greifbar. Die Verfolgungsjagd auf dem Studiogelände ist vorbei, doch die verängstigten jungen Frauen, die sich in Nischen oder auf Höhen versteckt hatten, wirken noch immer verstört. Auch wenn das „Spiel“ offensichtlich vorbei ist, verharren sie in ihrer Angst.
Mohammad Aghebati, der den Regisseur spielt, versucht die Frauen zu beruhigen, spricht tröstende Worte und umarmt sie. Doch er schafft es nicht allein und ruft Mehrnoush Alia zu Hilfe, die ihre verängstigten jungen Schauspielerinnen in Empfang nimmt.
Noch immer scheinen sie ihr wirkliches Leben zu imitieren – das Leben auf den Straßen Teherans, wo sie gejagt wurden, wenn sie die „falsche“ Kleidung trugen. Sie erinnern sich an die Bilder junger Frauen, die nach dem Tod von Jina Mahsa Amini ihre Solidarität zeigten – und dafür brutal niedergeschlagen oder getötet wurden. An den Universitäten, auf den Straßen, ohne Kopftuch.
Und sie denken an Jina Mahsa Amini, 22 Jahre alt, tot. An alle, die sich mit ihr solidarisierten und ihr Leben ließen: Nika Shakarami, 16, Armita Garavand, 16, Sarina Esmailzadeh, 17, und den kleinen Kian Pirfalak, gerade einmal 9 Jahre alt.
Doch am Ende können sie aufatmen – und hoffen. Auch die Zuschauer*innen verlassen den Saal mit Erleichterung und der leisen Zuversicht auf Veränderung.

Coverfoto: © Maaa Film – Berlinale