Wertewandel in der Islamischen Republik
Die Islamische Republik Iran setzt alles dran, die alten gesellschaftlichen Strukturen zu bewahren. Doch in Zeiten der globalen Veränderungen und des freien Informationsflusses ist ein Wandel der traditionellen Werte selbst im Iran unumgänglich. Das beste Beispiel ist die „weiße Ehe“ – das Zusammenleben ohne Trauschein. Eine Bestandsaufnahme.
Schahla ist Zahnärztin und lebt seit zwei Jahren mit Ali unter einem Dach – ohne Trauschein und ohne den Einfluss ihrer Familien.
Ali unterrichtet Mathematik an einer Teheraner Hochschule. Sein Gehalt ist „nicht der Rede wert“, sagt er, deshalb gibt er nebenbei Privatunterricht – und verdient damit fast doppelt soviel wie an der Hochschule.
Die beiden teilen sich den Lebensunterhalt und erscheinen in der Öffentlichkeit oder auf Partys als Paar. „Wir folgen der traditionellen Rollenverteilung im Iran nicht, nach der die Ehefrau für den Haushalt und der Ehemann für die Versorgung der Familie zuständig ist“, erklärt Schahla: „Wir packen die täglichen Aufgaben gemeinsam an, zuhause wie draußen.“
Das Paar hat für diese Beziehung hart gekämpft. Anfangs war Schahlas Familie vehement dagegen. Sie war die erste „Abtrünnige“ unter vier Schwestern, von denen die anderen allesamt verheiratet sind und Kinder haben. Auch Alis Familie nahm die Beziehung zunächst nicht ernst. Mit der Zeit hätten die Familien ihre Haltung aber geändert: „Nachdem sie gesehen haben, dass wir mit unserem Zusammenleben zufrieden und glücklich sind“, sagt Schahla.
Ob sie irgendwann doch heiraten werden?
„Wir werden eine Entscheidung treffen müssen, falls wir Kinder haben wollen“, sagt die 28-Jährige und ist sich sicher: „Ohne Trauschein im Iran Kinder zu haben? Sehr schwierig.“
Schahla hat für diesen Fall schon Erkundigungen angestellt und herausgefunden, dass sie, um die Kinder staatlich anerkennen und mit einer Geburtsurkunde versehen zu können, eine „Zeitehe“ eingehen könnten. Doch das empfindet sie als „eine Beleidigung der Frau“.
Im Iran dürfen Männer beliebig viele „Zeitehen“ schließen – auch wenn sie bereits verheiratet sind. Bei einer solchen Ehe legt man eine Begrenzung für die Dauer des Zusammenlebens fest. Diese Frist kann von einer Stunde bis zu 99 Jahren variieren. Die Kinder aus solchen Beziehungen werden vom Staat anerkannt.
Viele Kritiker bezeichnen die „Zeitehe“ als „islamische Prostitution“, deshalb ist sie gesellschaftlich nicht gut angesehen. Dennoch werben viele Kleriker besonders in den Pilgerstädten Ghom und Maschhad für diese Art der Zusammenkunft als Alternative zur „weißen Ehe“.
Erste Warnungen vor „weißer Ehe“
Unter der Regierung des Hardliners Mahmoud Ahmadinedschad galt das wachsende Desinteresse junger IranerInnen am Heiraten als „ernstes Problem“, das man zu bekämpfen hatte. Das Problem besteht nach wie vor, selbst ein neues Gesetz konnte den Trend nicht stoppen. Seit 2010 ist die Zahl der Eheschließungen im Iran laut staatlichen Angaben permanent gesunken. Mittlerweile heiraten Männer in einem durchschnittlichen Alter von 28,1 Jahren, Frauen mit 23,5 Jahren. Zum Vergleich: In den 1970er Jahren lagen die jeweiligen Durchschnittsalter bei 24,1 und 19,7 Jahren. In Teheran ist das Durchschnittsalter bei der Hochzeit 31 Jahre bei den Männern und 27 bei Frauen.
Doch fast ein Jahr nachdem Hassan Rouhani die Regierung übernommen hatte, schlugen die Moralapostel einen anderen Alarm. Im Mai 2014 machte im Internet ein Zeitungsbericht über ein Paar die Runde, das „seit acht Jahren in einer weißen Ehe“ lebte, die Runde. Von da an berichteten fast alle Medien des Landes und Hunderte Internetplattformen über die „weiße Ehe“. Warum man dem Zusammenleben ohne Trauschein diesen Namen gab, weiß niemand genau.
Im Fokus der zahlreichen Berichte, die monatelang veröffentlicht wurden, standen die negativen Folgen einer solchen „nichtehelichen“ Beziehung. Aus allen Ecken des Landes meldeten sich besorgte Kleriker und islamische Wissenschaftler zu Wort und warnten vor der „Katastrophe“. Die Geistlichen sprachen von „einer Sünde“, denn Gott habe im Koran die offizielle Eheschließung zwischen Mann und Frau vorgeschrieben. Ayatollah Mohammad Mohammadi, Büroleiter des iranischen „Revolutionsführers“ Ayatollah Ali Khamenei, warnte sogar vor „einer Generation der Bastarde“, die seiner Meinung nach aus der „weißen Ehe“ hervorgehen würde.
Wer es wagte, diese „westliche Dekadenz“ nicht zu kritisieren oder gar neutral darüber zu berichten, wurde getadelt. Am härtesten traf es die Zeitschrift „Zanane Emruz“ („Frauen heute“). Sie wurde im April 2015 wegen eines nicht-kritischen Berichtes über die „weiße Ehe“ für eine Weile verboten.
Doch dann wurde das Thema von den staatlichen Medien plötzlich komplett ignoriert. Die Soziologin Mina M., in einer staatlichen Institution tätig, hat sich mit dem Thema beschäftigt und kennt den Grund dieses Sinneswandels. „Die Erfahrung zeigt, dass ein Phänomen gesellschaftlich enttabuisiert wird, wenn man über lange Zeit darüber berichtet – selbst wenn dabei davor gewarnt wird. Deswegen hat man sich entschieden, die Sache erst einmal ruhen zu lassen“, sagt die Teheranerin gegenüber Iran Journal.
Weiße oder schwarze Ehe?
Die Kritiker des Zusammenlebens ohne Trauschein argumentieren, dass das Ziel einer Eheschließung „der Fortbestand der Gesellschaft“ und „die Sicherung der Zukunft des Landes“ sei. Für sie steht die sexuelle Befriedigung der Frau an letzter Stelle, wenn es darum geht, eine Familie zu gründen. Dass immer mehr junge Frauen lieber alleine bleiben und die religiösen Überzeugungen in der Gesellschaft immer mehr an Intensität verlieren, sei dem Einfluss des Internets und der ausländischen TV-Sendungen „vor allem aus der Türkei und den USA“ zu verdanken.
Der Soziologe Amanollah Gharaie-Moghadam etwa lehnte in einem Interview mit dem Nachrichtenportal Entekhab jegliche Art von außerehelichen Beziehungen als „schädlich für die Gesellschaft“ ab. Er nennt das Zusammenleben ohne Trauschein „schwarze Ehe“, da es seiner Meinung nach das Leben der Frauen zerstöre. Solche Beziehungen seien das Resultat einer losen Bindung zur Religion und ein Zeichen der „Wildheit und Primitivität“, meint der Universitätsdozent.
Er und andere Kritiker solcher Beziehungen sind der Meinung, dass die Frau dadurch zu Schaden komme, weil sie sich in den Augen der Gesellschaft „prostituiere“. Der Mann nutze die Frau nur aus.
Tabus brechen
Fortsetzung auf Seite 2