"Wo bleiben die Europäer?"

Der Staat hat die Pflicht, für Ordnung zu sorgen – unabhängig davon, was ich von dem jeweiligen Staat halte. Dass bei den Demonstrationen Sicherheitskräfte anwesend sind, ist per se nicht verwerflich. Aber wenn Menschen auf die Straße gehen, weil sie ihren Lebensunterhalt nicht mehr bestreiten können, und dabei Hunderte getötet und verwundet werden, dann ist das eine exzessive Gewaltanwendung des Staates. Und wenn dazu der Präsident sagt: „Ich habe die Videos gesehen, so viele Leute sind es gar nicht“, dann ist das Hohn und Spott für die Opfer.

Das islamische Regime hält nach eigenen Angaben nichts von den „westlichen“ Menschenrechten und wird von den Vereinten Nationen immer wieder wegen Menschenrechtsverletzungen verurteilt. Was könnte die Bundesregierung in Absprache mit anderen europäischen Ländern dagegen tun?

Das Erste wäre, den Kopf aus dem Sand zu ziehen! Ich bin wirklich verzweifelt, vor allem über die deutsche Außenpolitik, über den mutlosen Außenminister Heiko Maas, der seit Mai 2018 unter Schockstarre zu stehen scheint. Damals haben die Amerikaner das Atomabkommen gekündigt. Danach haben die Europäer ganz viel versprochen, was sie nicht geliefert haben.

Warum nicht?

Weil ihnen der Mut fehlt. Wenn man sie fragt, warum sie die Menschenrechtssituation im Iran nicht ansprechen, bekommt man die Antwort: „Wir müssen zuerst das Atomabkommen retten.“ Wie sie bisher vorgegangen sind, kann das Abkommen aber nicht retten. Gleichzeitig verliert man an Glaubwürdigkeit, wenn man über Menschenrechtsverletzungen im Iran schweigt. Das ist verheerend.

Unruhen im November 2019 Als Reaktion auf die Rationierung und Preiserhöhung für Benzin im Iran sind am Freitag (15. November) Tausende Menschen in mehr als 50 Städten spontan auf die Straße gegangen. Mit dem gewaltsamen Einschreiten der Polizei gegen die Protestzüge kam es zu blutigen Auseinandersetzungen. Die Demonstranten begannen ab Samstag (16. November) Straßen zu sperren und sich mit Steinen zu wehren. Sie setzen staatliche Gebäude, Banken, Polizeiautos und Polizeimottorräder in Brand. Bei den Protesten bis Mittwoch (20. November) sollen nach Angaben der Amnesty International mindestens 106 Menschen getötet und mehr als 3.000 verwundet worden sein. In den Sozialen Netzwerken ist die Rede von mehr als 200 Toten. Die Regierung hat bis Mittwoch keine Angaben über die Opfer gemacht. (Siehe nächste Bilder)
Die Proteste begannen vielerorts friedlich!

 
Solange die Islamische Republik in dieser Form existiert, wird es im Iran keine Möglichkeit zur Bildung einer laizistischen Opposition geben. Hat Ihre Partei Pläne, die Demokratiebestrebungen im Iran zu unterstützen?

Trotz des immensen Drucks und der Repression seitens der Machthaber gibt es im Iran eine blühende Zivilgesellschaft. Wir stehen auf der Seite dieser Zivilgesellschaft und unterstützen sie, wo wir können. Was wir nicht treiben, ist eine Regime-Change-Politik, weil nicht das Ausland entscheiden darf, wer im Iran regiert. Wir haben aber die Verpflichtung, auf der Seite der Menschen zu stehen, die für ihre Rechte eintreten. Die Überschrift lautet Menschenrechte, und dabei geht es an erster Stelle um Frauen-, Kinder- und Minderheitenrechte. Hier sind nicht nur religiöse Minderheiten gemeint, sondern alle.

Sie haben in letzter Zeit in einigen Interviews die Sorge geäußert, dass der Atomkonflikt zu einer neuen Eskalation größeren Ausmaßes führen könne. Was tun die Grünen, um das zu verhindern?

Wir beknien und bedrängen unseren Außenminister, am Persischen Golf Deeskalation zu betreiben. Der Iran ist ein hochproblematischer Akteur – wegen der Frage der Menschenrechte und wegen der Regionalpolitik, die man dieser Tage in Syrien und im Libanon sieht. Ich bin ein Fan der iranischen Fußball-Nationalmannschaft – wenn sie verlieren, bin ich richtig traurig. Es war für mich deprimierend zu sehen, dass nach der Niederlage der iranischen Mannschaft gegen den Irak Tausende Iraker auf die Straße gegangen sind und sich gefreut haben, weil die Iraner eins auf die Mütze gekriegt hatten. Sie sind gegen die Einmischung des Irans in die Politik ihres Landes. Dazu kommt natürlich die Frage nach dem Umgang mit Israel. Das sind die drei Hauptprobleme, die wir mit dem Iran haben. Das vierte ist die Idee der Nuklearisierung des Nahen Osten. Das wäre verheerend für alle. Eigentlich hatten wir dieses Problem mit dem Atomabkommen erst mal gelöst.

Sind Sie dafür, über das Abkommen neu zu verhandeln?

Ich plädiere nicht dafür, dass man mit dem Iran neu verhandeln und alles in ein Abkommen packen muss. Aber es geht auch nicht, dass wir Europäer nur ein Problem behandeln und über den Rest schweigen. Was die Einmischung in die regionalen Konflikte angeht: Von der Obrigkeit im Iran hört man immer wieder, man würde – etwa in Syrien – das eigene Land verteidigen. In den 1980er Jahren hat man das Vorgehen der USA, zwei Länder weiter das eigene Land zu verteidigen, Imperialismus genannt.

In den vergangenen Wochen hat es Aufstände in Algerien, dem Irak, dem Libanon und im Iran gegeben. Was, glauben Sie, wird uns als nächstes in der Region erwarten?

Ich habe in den vergangenen Jahren gelernt, dass der orientalische Kaffeesatz dick und unüberschaubar ist. Aber ich kann nur davor warnen, zu glauben, dass alles noch schlimmer wird. Dass die Menschen für ihre Rechte friedlich auf die Straße gehen und ihr Leben riskieren, ist ein mutiger Akt und zeigt, welch immenses Potenzial diese Länder eigentlich haben.♦

Das Interview führte Farhad Payar

© Iran Journal

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