Warum es im Iran keine Pro-Palästina-Massendemos gibt

Die Gaza-Krise im Oktober 2023 zeigt, dass sich ein großer Teil der öffentlichen Meinung im Iran von der Regierung abgekoppelt hat und die Palästinafrage nicht mehr auf die gleiche Weise betrachtet wie zuvor. Wir können von einer Art Bruch mit und sogar Feindseligkeit gegenüber Palästina bei einem großen Teil der Gesellschaft sprechen. Dabei spielen drei grundlegende Phänomene eine entscheidende Rolle.

Der erste Punkt betrifft die Beziehung zwischen der Bevölkerung und der Regierung der Islamischen Republik. Die tiefe Frustration und Wut der Menschen über die Politik und die schlechte Regierungsführung der islamischen Machthaber hat dazu geführt, dass alles, was die Propaganda der Regierung forciert, von der unzufriedenen Bevölkerung automatisch als unerwünscht abgelehnt wird. Für die Iraner*innen, die nach über 40 Jahren in einer tiefgreifenden Desillusionierung gegenüber der Einmischung der Religion in Politik und Regierung leben, gilt diese Ablehnung gegenüber allen islamistischen Kräften, sei es denen im Iran, sei es die Hamas, der Islamische Dschihad, die libanesische Hisbollah bis hin zu ähnlichen Kräften im Irak, in Syrien, im Jemen und in Bahrain. Im instrumentellen Einsatz von Religion und religiösem Fundamentalismus unterscheiden sie alle sich nicht von der Islamischen Republik und ihrer Ideologie.

Das zweite Problem ist die umfangreiche finanzielle Unterstützung der islamistischen Kräfte durch die iranische Regierung. Konnte sie in der Vergangenheit das kostspielige Eingreifen etwa als „Verteidigung des Heiligtums“ in Syrien rechtfertigen, glauben heute nur noch wenige Menschen an solche Behauptungen. In den Augen der Iraner*innen verschwendet die Islamische Republik die Ressourcen und den Reichtum des Landes für fruchtlose Ambitionen und Abenteuer in der Region, anstatt die weit verbreitete Armut und Fehlentwicklungen im eigenen Land zu bekämpfen. Die Rückständigkeit und wirtschaftliche Isolation Irans werden als direkte Folgen dieser Politik wahrgenommen.

Das dritte Problem ist die Doppelmoral der Islamischen Republik und der Mangel an moralischer und politischer Legitimität dafür, die Rechte und Freiheiten der Menschen eines anderen Landes zu verteidigen. Eine Regierung, die Demokratie und Menschenrechte im eigenen Land nicht respektiert, die grundlegende bürgerliche Freiheiten wie das Recht der Frauen auf die Wahl ihrer Bekleidung nicht anerkennt, soziale und Protestbewegungen brutal unterdrückt, Gegner*innen einsperrt, Dissident*innen auf der Straße zusammenschlägt, erschießt oder blendet, hat keine Legitimität, gegen die Behandlung der Palästinenser durch Israel zu protestieren. Aus diesem Grund werden die Kritik an Israel und der Aufschrei der Regierung angesichts der Vertreibung, Unterdrückung oder des Todes von Palästinenser*innen in den Augen vieler, die nicht zur Regierung gehören, als reine Heuchelei wahrgenommen.

Vor diesem Hintergrund wurden die Palästinenser*innen und die palästinensische Frage in der öffentlichen Meinung des Iran im Laufe der Zeit zu einem Regierungsthema und Propagandafeld der Islamischen Republik, was zumindest einen Teil der deutlich von anderen islamischen Ländern abweichenden Reaktionen breiter Kreise der iranischen Bevölkerung auf die jüngste Krise erklärt. Dies ist jedoch nur ein Teil des sehr komplexen Bildes der Haltung der Iraner*innen gegenüber der Palästinafrage.

Gute Freunde: Irans Staatsoberhaupt Ali Khamenei (re.) und Hamas-Führer Ismail Hanniya
Gute Freunde: Irans Staatsoberhaupt Ali Khamenei (re.) und Hamas-Führer Ismail Hanniya

Polarisierung der iranischen Gesellschaft mit blinden Flecken

Die religiösen Kräfte im Iran – sowohl an der Regierungsspitze als auch in der Bevölkerung – sehen sich als natürliche Freunde des palästinensischen Volkes. Diese Haltung wird von den meisten islamischen Regierungen, aber im Unterschied zum Iran dort auch meist von breiten Bevölkerungsschichten geteilt. Die Islamisten im Iran haben sich eine Identität geschaffen, die von Hass, Gewalt, Terror, der Ablehnung von Frieden, einem exklusiven Machtanspruch und einem autoritären Regierungsstil gekennzeichnet ist. Sie setzen auf die Unterdrückung von säkularen Gegner*innen sowie auf sexuelle und religiöse Diskriminierung. Auch die Hamas-Regierung in der Gaza-Region folgt einem derartigen islamistischen Regierungsstil.

Aber auch andere politische Kräfte im Iran, insbesondere die Reformisten und manche dogmatische, antiimperialistische Linke, analysieren die aktuelle Krise zwischen Israel und der Hamas nach demselben Denkmuster. Für sie ist „das zionistische Israel“ der alleinige Schuldige der Krise und der ständige Komplize des „Imperialismus“ und der „Westmächte“ in der Region. Sie blenden die zerstörerische Politik der Hamas, deren antidemokratischen und repressiven Islamismus aus und halten jede Aktion zur Bekämpfung der Besatzungsmacht Israel für legitim.

Blinde Flecken in der Wahrnehmung finden sich auch bei jenen, die aufgrund der Komplizenschaft der Hamas und der Islamischen Republik die Augen vor der Tötung von Kindern und Zivilist*innen in Gaza verschließen, sich in der Nahostkrise – wie viele Europäer und die USA – ganz eindeutig auf die Seite Israels stellen und jeglichen Vergeltungsschlag als legitime Selbstverteidigung und sogar Angriffe auf Krankenhäuser als Terrorbekämpfung sehen.

Die meisten Sympathien für Israel sind im Iran jedoch wie erläutert innenpolitisch durch die Wut gegen das Regime und teilweise auch historisch motiviert, denn schließlich hat der Iran eine lange Tradition einer iranisch-jüdischen Kultur.

Diese Polarisierung prägt auch die Iraner*innen in der internationalen oppositionellen Diaspora. Während traditionelle Linke sich massiv gegen die israelische „Politik der Apartheid“, der Landnahme und der Angriffe auf Gaza aussprechen und mit den Palästinenser*innen aus nicht-religiösen Gründen sympathisieren, äußern sich viele monarchistische Gruppen und der eher „rechte Flügel“ pro-israelisch. Manche gehen dabei so weit, militärische Angriffe seitens Israels oder den USA auf die Islamische Republik Iran zu unterstützen, um „der Schlange den Kopf abzuhacken“.

Opfer und Täter auf beiden Seiten

Die Polarisierung der iranischen Gesellschaft in Bezug auf die Palästinenserfrage spiegelt auch die Polarisierung auf internationaler Ebene wider, die sich beispielsweise im Abstimmungsverhalten über die UN-Resolution zum Konflikt gezeigt hat.

Der Verweis auf die vereinfachte Unterdrücker-Opfer-Dichotomie in der aktuellen Krise schließt die Möglichkeit einer rationalen Bewertung der Ereignisse aus. Die Komplexität dieser alten regionalen Wunde besteht darin, dass die Akteure der Krise auf beiden Seiten gleichzeitig die Rolle von Unterdrückern bzw. Tätern und Opfern spielen.

Dabei wird auch von den Iraner*innen vergessen, dass diejenigen, die auf beiden Seiten der Grenze unter den Trümmern begraben oder getötet werden, Menschen sind, bevor sie Israelis oder Palästinenser sind. Die vernünftigen Kräfte der Gesellschaft – im Iran und im Ausland – sollten über die Wichtigkeit der Verteidigung der Menschenrechte, des Friedens und des Kampfes gegen Gewalt miteinander in Dialog treten. Dieser Dialog sollte das Ziel haben, die Verwicklung der Islamischen Republik in regionale Krisen und den religiösen Fundamentalismus im Iran, in palästinensischen Gebieten und in anderen Ländern des Nahen Ostens bloßzustellen und zu beenden.♦

David Parsian hat in Graz und Wien Politikwissenschaft, Zeitgeschichte und Orientalistik studiert und arbeitet seit 1992 an der Universität Wien.

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