Macht und Ohnmacht der Frauen im Iran – Teil 1

In den Jahrzehnten zwischen Bibis erster Mädchenschule und der Islamischen Republik erlebt der Iran enorme Veränderungen. Im Dezember 1925 kommt Reza Schah Pahlavi an die Macht; er will das Land zu einem modernen Nationalstaat umformen. Eine deutlich säkularisierte Staatsräson soll das bisherige, auf Volkszugehörigkeit und Religion basierende Machtgefüge ersetzen. Sein Vorbild ist die neue Republik Türkei, die er zuletzt 1935 besucht und deren westlich orientierte Reformen unter Kemal Atatürk ihn beeindruckt hatten. Reza Schah Pahlavi legt Wert auf Bildung – und auf ein neues Erscheinungsbild der iranischen Frauen, die bislang in viele Meter Stoff gehüllt und kaum gesellschaftlich aktiv waren. Das soll sich grundlegend ändern. Per Dekret verfügt er am 7. Januar 1936, dass Frauen und Mädchen nicht mehr mit Kopftüchern in der Öffentlichkeit erscheinen dürfen. Polizisten lauern mit Bajonetten, und wenn sie eine Frau mit Kopfbedeckung sehen, ziehen sie ihnen das Kopftuch oder den Umhang mit den Spitzen ihrer Bajonette herunter. Moderne Hüte, wie sie die europäischen Frauen tragen, sind dagegen erlaubt.

Nach dem Hijab-Verbot durch Reza Schah trugen viele iranische Frauen Hüte
Nach dem Hijab-Verbot durch Reza Schah trugen viele iranische Frauen Hüte

Die neuen Verordnungen treffen die iranischen Frauen unvermittelt und hart. Selbst diejenigen unter den Gebildeten und Aufgeklärten, die eine Abschaffung des Kopftuchs fordern, wünschen doch nicht, dass ihren Angehörigen, Nachbarinnen, Geschlechtsgenossinnen die Bedeckung per Dekret verboten wird. Mehr noch: dass bewaffnete Polizisten auf sie losgehen und ihnen die Tücher vom Kopfe reißen.

Die ambivalente Wirkung der staatlich befohlenen Entschleierung ist unübersehbar. Wissbegierigen, selbstbestimmten Frauen bietet sie eine unverhoffte Chance, sich freier zu bewegen und gleichberechtigter zu fühlen. Traditionelle, religiöse Frauen ziehen sich jedoch immer mehr in ihre privaten Räume zurück, um den Anordnungen zu entgehen. Manche verlassen nur noch nachts das Haus, wenn sie dringend etwas erledigen müssen, einige bleiben gleich ganz daheim. Der von oben verordneten Modernität ging kein aufklärerischer Prozess voraus.

Der Spalt zwischen Tradition und Moderne wird tiefer

Obwohl Reza Schah sich zur Neutralität bekennt, wird der Iran 1941 im Zweiten Weltkrieg von den Alliierten besetzt. Reza Schah wird verbannt, sein Sohn kommt an die Macht. Als Kronprinz verbrachte er seine Schulzeit in einem exklusiven Schweizer Internat zwischen Kindern aus der europäischen Finanz- und Politelite. Die Modernisierungspläne seines Vaters setzt er fort. Die Teile der Bevölkerung, die sich weigern, die Änderungen der auf der Scharia beruhenden Gesetze hinzunehmen, werden dabei ignoriert; sie ziehen sich weiter ins innere Exil zurück. Auch unter Mohammad Reza Schah bleiben Aufklärung und kulturelle Begleitmaßnahmen der Modernisierung auf der Strecke.

Laut der Scharia, dem islamischen Recht, fängt das Erwachsenenalter bei Jungen mit 15 Jahren an, Mädchen hingegen gelten schon ab dem 9. Lebensjahr als reif, heiratsfähig und strafmündig. So hindern manche traditionellen islamischen Väter ihre Töchter ab deren 9. Lebensjahr daran, zur Schule zu gehen, spätestens aber, wenn sie mit 12 oder 13 Jahren die Grundschule abgeschlossen haben.

Farrokhroo Parsa war von 1968 bis 1975 Ministerin für Bildung und Erziehung im Iran und wurde nach der Revolution hingerichtet!
Farrokhroo Parsa war von 1968 bis 1975 Ministerin für Bildung und Erziehung im Iran und wurde nach der Revolution hingerichtet!

Das ist aber nur die eine Seite der iranischen Gesellschaft. Auf der anderen Seite lebt ein Teil der Iraner*innen von 1941, als der junge Schah die Macht übernimmt, bis zu seinem Sturz im Jahr 1979 modern und westlich orientiert. Diese Frauen besuchen Hochschulen, studieren im Ausland, dürfen wählen, Parlamentsabgeordnete und Ministerinnen werden. Sie treiben Sport, spielen mit kurzen Hosen oder Röcken Tennis und Volleyball, reiten und feiern in Miniröcken Parties, singen, sind Schriftstellerinnen, Dichterinnen, und Schauspielerinnen, und haben in den Sechziger und Siebziger Jahren sogar „Boyfriends“.

Die beiden Teile der iranischen Gesellschaft leben, wenn auch einigermaßen friedlich und respektvoll, in Parallelwelten. Nicht selten ist zu sehen, dass sich innerhalb einer Familie die Mutter verhüllt, während die erwachsenen Töchter sich modisch kleiden und keine Kopfbedeckung tragen. Sie leben nebeneinander und miteinander, meist friedlich, auch wenn es den Jüngeren manchmal peinlich ist, wenn die Freunde sie in Begleitung verschleierter Frauen sehen, oder die Mutter nicht gerne neben einem Teenager läuft, der einen kurzen Rock trägt. Es gab ein Nebeneinander, das nie undurchdringlich wurde, sondern fließend war und Überlappungen ertragen konnte.

Der Westen sieht nur eine Seite
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