Theater aus Teherans Katakomben
Das Buch „Last Scene Underground“ der amerikanischen Kulturanthropologin Roxanne Varzi trägt den Untertitel „Ein ethnographischer Roman“ und handelt von einer Teheraner Studentenclique, die im Untergrund ein illegales Theaterstück auf die Beine stellen will. Von Marian Brehmer
Die Kulturanthropologie ist eine der wissenschaftlichen Disziplinen, in der Forscher einen engen Draht zum Boden der Gesellschaft bewahren und – der eigenen Neugier folgend – eine Brücke zwischen akademischer Welt und menschlichen Lebensrealitäten zu schaffen vermögen.
So könnte auch das Ziel von Roxanne Varzi lauten. Die Professorin für Kulturanthropologie und Medienforschung an der University of California wurde im Iran geboren und siedelte kurz nach der Islamischen Revolution mit ihrer Familie in die Vereinigten Staaten über. Im Gegensatz zu vielen amerikanischen Exiliranern kappte Varzi die Verbindung zu ihrem Geburtsland nicht und zog 1994 sogar für einen vierjährigen Forschungsaufenthalt erneut nach Teheran. Seitdem kehrt die Anthropologin regelmäßig in den Iran zurück, um zur Jugendkultur des Landes zu forschen.
„Ich liebe den neugierigen und experimentellen Geist, dem ich im Iran begegnet bin und wollte diese Form von Ausdrucksstärke auch in meiner eigenen Arbeit einbringen“, erzählt Varzi. Ihre Arbeit wurde in Form von Dokumentarfilmen oder Klanginstallationen weltweit in Museen gezeigt. Zuletzt hat die Akademikerin eine für die Wissenschaft eher ungewöhnliche Art gefunden, ihre Forschungsergebnisse zu präsentieren: als Fiktion, verpackt in dem Roman „Last Scene Underground“. Das Buch trägt den Untertitel „Ein ethnographischer Roman“ und handelt von einer Teheraner Studentenclique, die im Untergrund ein illegales Theaterstück auf die Beine stellen will.
Nah an den ethnographischen Fakten
Hat Roxanne Varzi hier ein neues Genre geschaffen, das die Grenzen von Fakt und Fiktion zerfließen lässt? „Als ich das Buch schrieb, dachte ich, dass ich durch das Schreiben eines Romans meine Charaktere besser schützen könnte. Außerdem versprach ich mir einen größeren künstlerischen Spielraum“, erzählt die Anthropologin. „Dann habe ich jedoch gemerkt, dass das nicht unbedingt stimmt, zumal ich mich beim Schreiben sehr nah an meine ethnographischen Daten gehalten habe.“
Es ist dem Roman anzumerken, dass Varzis Charakterisierungen, ob von Menschen oder Stadtbildern, genauen Beobachtungen entspringen – etwa ihre Beschreibung der beliebten Darband-Schlucht im Norden Teherans, wo Männer Kanarienvögel Hafez-Gedichte aus einem Kasten für Ausflügler herauspicken lassen, oder in den nicht enden wollenden Verkehrsstaus der Hauptstadt. Manchmal ist „Last Scene Underground“ so wissenschaftlich im Detail, dass die Trennlinie zwischen ethnographischem Report und fiktiver Erzählung tatsächlich sehr dünn erscheint.
Im Zentrum des Buches steht Leili, eine armenische Christin, die sich in der Eingangsszene mit einer rebellischen Bemerkung in der Klasse für Islamische Ethik in die Bedrouille bringt. Auch die Freundschaften und Konversationen, aus denen das Buch gewoben ist, sind von einem Geist des Ungehorsams durchzogen.
Ob bei der Lektüre verbotener Literatur im altehrwürdigen Intellektuellen-Café „Naderi“, bei der Charakterisierung von Leilis Vater – einem in der Vergangenheit stecken gebliebenen Marxisten („Er denkt, das Leben habe nach der Revolution aufgehört“) – oder bei der ersten illegalen Theaterprobe in den Katakomben der Stadt, die von den Basidsch-Milizen gestürmt wird: Dissidenz ist in Varzis Roman die Regel.
Untergrund als Fluchtort
Interessant ist, wie Varzi mit langen Dialogen zwischen den jungen Erwachsenen, die oft selbst an das Skript eines Theaterstücks erinnern, eine Nahaufnahme von Irans Mittelklasse-Jugend schafft. Porträtiert werden hochgebildete, avantgardistische junge Menschen, die in der Lage sind, Ibn Arabi mit Freud zu vergleichen – wie bei einer der Café-Sitzungen – aber das Gefühl haben, in den Zuständen ihres Landes zu stagnieren.
Als Fluchtort bleibt ihnen nur der Untergrund. „Dieser schafft einen Alternativraum zu jenem Raum, der der Öffentlichkeit übergestülpt wird“, sagt Varzi. „Das ist nicht unbedingt etwas Neues, sondern gab es bereits vor der Revolution, wenn etwa Nichtreligiöse eine Fassade von Frömmigkeit aufbauen wollten.“
Dass das Theater Dreh- und Angelpunkt von „Last Scene Underground“ ist, ist kein Zufall. Varzi hat während ihrer Recherche zahlreiche Untergrund-Theater besucht. In ihrer Einführung beschreibt die Autorin die Geschichte des iranischen Theaters – vom traditionellen schiitischen Passionsspiel ta’zieh bis zu den schicken Sechzigerjahre- Theaterfestivals in Schiraz, organisiert von der Frau des Schahs, bei denen sich europäische Theaterregisseure gegenseitig die Klinke in die Hand gaben.
Metapher für das Alltagsleben
Das Theater wird in Varzis Roman auch zur Metapher für das Alltagsleben der Bewohner von Teheran – ein ständiges Rollenspiel, den Regieanweisungen von Gesellschaft und Politik folgend. Und so entsteht, etwa durch politische Diskussionen oder dem Fokus auf Themen wie Heroin-Sucht in der Hauptstadt, manchmal ein düsteres Bild des iranischen Alltags, in dem das Subversive als einziger Hoffnungsschimmer übrigbleiben zu scheint. Bei dieser Perspektive erfahren wir wenig vom Leben Jugendlicher, die aus konservativeren oder sozial schwächer gestellten Schichten kommen und deren Blick auf die Welt ein ganz anderer sein mag.
Und dennoch vermag es „Last Scene Underground“ sehr geschickt, uns mitten in die Dynamik eines wichtigen Teils des modernen Teheraner Lebens hinein zu katapultieren ohne dabei zu übertreiben oder zu beschönigen. Und das ist eben auch ein Verdienst der wissenschaftlichen Brille der Autorin.
MARIAN BREHMER
© Qantara.de 2016
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