Immer mehr „Angeber-Süchtige“

Das Problem Drogensucht erreicht im Iran quantitativ und qualitativ neue Dimensionen. Die Zahl der so genannten „Angeber-Süchtigen“ hat sich in acht Jahren verzehnfacht. Die Politik reagiert nicht effektiv genug.

Ali Hashemi, Leiter des iranischen „Antidrogenkomitee des Schlichtungsrats“ hat Ende Februar auf einer Konferenz in Teheran die bisherige Politik der Regierung zur Bekämpfung des Drogenproblems in den letzten zehn Jahren als ineffektiv bezeichnet. Seinen Angaben zufolge brauchen Süchtige in den kleineren Städten des Iran nur zwei Minuten für das Besorgen ihrer Drogen. „Drogen findet man überall im Lande sehr leicht, selbst in den Gefängnissen“, ließ der Drogen-Experte wissen.

Zuvor hatte sein Kollege Saeed Safatian auf die „alarmierende“ Zahl der so genannten „Angeber-Süchtigen“ im Iran hingewiesen. Laut Safatian hat sich die Anzahl dieser Drogensüchtigen im Iran innerhalb von acht Jahren verzehnfacht. Als „Angeber-Süchtige“ werden Drogenabhängige bezeichnet, die ihre Sucht nicht verstecken. Sie nehmen normalerweise harte Drogen, sind meist obdachlos und zum großen Teil mit übertragbaren Krankheiten infiziert.

Safatian leitet die Arbeitsgruppe „Reduzierung der Nachfrage“ des Schlichtungsrats. Aufgabe der Gruppe ist, die Nachfrage nach Drogen einzudämmen. Der Schlichtungsrat, dem der prominente Politiker Akbar Haschemi Rafsanjani vorsitzt, hat Zugang zu unterschiedlichen, zum Teil nicht öffentlichen Statistiken. Vor seiner Präsidentschaft leitete jahrelang Hassan Rouhani das „Zentrum für strategische Forschungen“ des Rates.

Die aktuelle Zahl der „Angeber-Süchtigen“ schätzt Safatian auf landesweit 120.000 bis 150.000, allein in der Hauptstadt Teheran sollen es etwa 15.000 sein. 2006, zu Beginn der Amtszeit des Ex-Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad, seien es im gesamten Iran etwa 15.000 gewesen, so Safatian.

Blitzaktionen statt nachhaltiger Bekämpfung

Jahrzehntelang wurde das Problem Drogensucht im Iran kleingeredet. Im Medienzeitalter geht das nicht mehr, trotzdem wird das Übel nicht an der Wurzel gepackt. Seit Jahren werden immer wieder Bilder von Polizeiaktionen gegen obdachlose Drogenabhängige oder Kleindealer veröffentlicht. Problembezirke werden so „schön und sauber“, doch bald tauchen neue Kieze und neue Bilder auf. Im November 2015 stürmten aufgebrachte Bewohner eines Bezirks im Zentrum Teherans mit Holzbalken und Stöcken die Sammelstelle Drogensüchtiger in einem bekannten Park. Die Süchtigen wurden vertrieben, ihre Zelte in Brand gesetzt.

Am 26. Juni wurden 6 Tonnen Drogen, die in der Provinz Fars beschlagnahmt worden waren, vernichtet. Nach Angaben des Komitees zur Bekämpfung von Drogen in der Islamischen Republik werden im Iran jährlich bis zu 600 Tonnen Rauschgift konsumiert. Betroffen sind vor allem junge Menschen zwischen 25 und 29 Jahren. Nach offiziellen Angaben soll es im Gottesstaat im Jahre 2011 etwa 1,2 Millionen Drogenabhängige gegeben haben, darunter 400.000 Heroinsüchtige. Diese Statistik wird von Experten jedoch angezweifelt, da die Angaben seit mehreren Jahren konstant bleiben.
Jährlich werden mehrere Tonnen Drogen von der iranischen Polizei beschlagnahmt und vernichtet

Doch Initiativen, die das Problem vielseitig bekämpfen und etwa das Umfeld der Drogenabhängigen in eine effektive Therapie mit einbeziehen, kommen zu kurz. Viele Süchtige werden wegen fehlender staatlicher und gesellschaftlicher Unterstützung nach der Therapie wieder rückfällig. Zahlreiche Nichtregierungsorganisationen, die diese Lücke schließen und solche sozialen Probleme in die Mitte der Gesellschaft tragen wollen, indem sie sie unmittelbar mit den Menschen und betroffenen Familien diskutieren, gingen im Zuge der politischen Unterdrückung während der Amtszeit von Präsident Ahmadinedschad unter.

Zudem agierten die zuständigen Behörden nicht koordiniert, es fehle die nötige Kompetenz, meint der Arbeitsgruppenleiter Safatian. „Entscheidungsträger bei Stadtverwaltungen und anderen Behörden konnten bislang keinen geeigneten Plan vorstellen, Gesetze zur Reduzierung der Drogenabhängigkeit wurden nicht umgesetzt“, sagte er kürzlich der iranischen Nachrichtenagentur ILNA.

Die großen Fische kommen davon

Der Staatsanwalt von Teheran, Abbas Dschafari Dolatabadi, nannte dagegen Ende Februar die Bekämpfung großer Drogenbanden „effektiv“. Er sprach sich laut der Nachrichtenagentur ISNA dafür aus, gegen die Geldquellen der Großhändler vorzugehen. Warum allerdings seit Jahren – und mittlerweile offiziell – über den organisierten Drogenhandel im Iran zwar gesprochen, aber kaum etwas dagegen unternommen wird, dazu sagte der Staatsanwalt nichts.

Der Iran liegt auf der internationalen Drogenroute von Afghanistan – einer der Hauptstandorte der weltweiten Drogenproduktion – nach Europa. Jährlich werden mehrere Tonnen Drogen ins Land geschmuggelt. In iranischen Großstädten kann man an jeder Straßenecke und in vielen Parks Drogen kaufen. Schon 2006 zitierten Medien den damaligen Chef der Antidrogen-Einheit der Polizei mit den Worten: „Süchtige in Teheran brauchen für das Besorgen ihrer Drogen höchstens 20 Minuten.“ Die Zeit dürfte sich bis heute noch verkürzt haben.

Polizei und Nachrichtendienste, die sonst gern ihre Erfolge präsentieren und behaupten, „antirevolutionäre“ und kriminelle Machenschaften unter Kontrolle zu haben, berichten kaum je über das Zerschlagen eines organisierten Drogennetzwerks. Das wäre allerdings auch eine indirekte Bestätigung der Existenz solcher Banden. Und möglicherweise auch eine Bestätigung jener, die behaupten, dass die Mächtigen selbst dabei ihre Hände im Spiel haben. Mehrmals wurde bereits offiziell vor dem möglichen Hineinfließen von „schmutzigen Geldern“ in die Politik gewarnt.

Soziale Konsequenzen

Viele drogensüchtige Frauen werden von ihren Familien verstoßen
Viele drogensüchtige Frauen werden von ihren Familien verstoßen

Angesichts dessen nimmt die Zahl der Drogensüchtigen weiter zu. Laut dem Teheraner Staatsanwalt Dschafari Dolatabadi befinden sich allein in der Hauptstadt 10.000 Drogenabhängige in den Gefängnissen. Auch viele Obdachlose sind drogensüchtig. Es gibt sogar Berichte darüber, dass Drogensüchtige ihre Kinder verkaufen: ein ungeborenes Kind für 50 Euro. Ein Prozent der SchülerInnen – 130.000 – soll regelmäßig Drogen konsumieren, sagt der Parlamentarier Hussein Tala. Auch ist die Drogensucht im Iran seit einigen Jahren kein rein männliches Phänomen mehr.

Mit der Verbreitung synthetischer Drogen hat das Problem in den vergangenen Jahren eine neue Dimension angenommen. Diese sind in der Herstellung weniger aufwendig und bereits kleine Mengen lösen den gewünschten Rausch aus. Das macht das Geschäft lukrativer und die Bekämpfung schwieriger.

Methamphetamin, bekannt als Crystal Meth, sei nach Opium die meist konsumierte Droge im Iran, gab die nationale Organisation für Drogenbekämpfung Mitte Februar auf dem Nachrichtenportal TASNIM bekannt. Gewichtsverlust ist eine Nebenwirkung der Droge, die deshalb angeblich in Schönheitssalons angeboten wird. Die synthetischen Drogen greifen das Gehirn an und lösen zum Teil Wahnvorstellungen aus. Täglich berichten iranische Medien von Meth-Süchtigen, die ihre Familienmitglieder brutal ermordet haben. Zugrunde gerichtete Familien, Prostitution und der Kinderverkauf sind nur ein Teil der sozialen Lasten, die der Iran wegen der hohen Zahl von Drogensüchtigen verkraften muss.

IMAN ASLANI