Ein dunkles Kapitel der iranischen Geschichte

Am Anfang des zweiten Sommermonats wurden zum ersten Mal drei Anhängerinnen der Mudschaheddin aus unserem Trakt geholt. Wir hatten alle wochenlang keine Besuchserlaubnis, was uns beunruhigte. Die Mudschahed-Frauen kamen nicht mehr zurück, und ich hatte so ein beklemmendes Gefühl, denn es war klar, dass sie nicht entlassen worden waren. Doch was mit ihnen geschehen ist, wusste niemand. Erst als wir wieder Besuch hatten, erfuhren wir von den Hinrichtungen und deren Ausmaß.

In den vergangenen Jahrzehnten wurde viel für die Aufklärung der Geschehnisse in jenem Sommer getan. Was hat das gebracht?

"Nach dieser Auszeichnung werden die „Mothers of Khavaran“ einen herausragenden Platz in der iranischen Demokratiebewegung einnehmen!"
Die „Mütter von Khavaran“ wurden 2014 mit dem Menschenrechtspreis der südkoreanischen Stadt Gwangjuieser ausgezeichnet

In dieser Hinsicht verdanken wir den „Müttern von Khavaran“ (Mütter politischer Gefangener, die bei den Massenhinrichtungen getötet wurden) viel. Sie haben im Laufe der Jahre durch ihre Versammlungen auf dem Friedhof Khavaran (wo viele der Hingerichteten in Massengräbern liegen), vor der Justizbehörde in Teheran und durch offene Briefe an die Verantwortlichen auf die Massenhinrichtungen hingewiesen und ihre Stimme sogar ins Ausland getragen. Nach und nach schlossen sich auch andere Frauen an. Sie wollten und wollen immer noch wissen, warum ihre Kinder, Ehemänner oder Geschwister hingerichtet wurden und wo sie begraben sind. Offene Fragen, auf die bisher niemand eingegangen ist.
Im Ausland wurden dann verschiedene Aktivitäten gestartet. Unter anderem hat die Borumand-Stiftung den britischen Richter Geoffrey Robertson mit Recherchen und der Erstellung eines juristischen Gutachtens beauftragt. Er hat mit Hinterbliebenen und Zeitzeugen, auch mit mir, Gespräche geführt und 2010 bekannt gegeben, dass die Massenhinrichtungen des Sommers 1988 als Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu bezeichnen seien.

Es gab auch ein Iran-Tribunal, das Wahrheitskommission genannt wird.

Ja, darin haben sich mehrere internationale Richter mit dem Thema befasst und die Islamische Republik symbolisch angeklagt.

Die „Mütter von Khavaran“ hatten Vorbilder, die international für Aufsehen gesorgt haben. Die Berühmtesten sind die Mütter der verschwundenen politischen Gefangenen in Argentinien und der Türkei. Warum haben die „Mütter von Khavaran“ nicht die gleiche Aufmerksamkeit erlebt wie diese?

Das ist eine wichtige Frage, auf die ich keine plausible Antwort habe. Die Mütter in Argentinien wurden von Medien und Verteidigern der Menschenrechte in allen Kontinenten, sogar vom Papst, unterstützt. Leider haben die Mütter von Khavaran nicht die gleiche internationale Unterstützung erhalten. Vielleicht ist das Schwarz-Weiß-Bild, das vom Iran in den Medien gezeichnet wird, ein Faktor dafür. Entweder romantisiert man den Iran oder man zeigt schreckliche Bilder. Dass es einen Widerstand, eine Streben nach Gerechtigkeit von einigen Hundert Müttern gibt, passt nicht in dieses Bild. Außerdem wurde die Verteidigung der Menschenrechte etwa in Deutschland institutionalisiert. Es ist nicht mehr wie in den 1970ern oder 80ern, wo Tausende Menschen dafür auf die Straßen gingen. Heute unterschreibt man lieber eine Petition im Internet.

Glauben Sie, dass irgendwann Licht in das Geschehen kommt und die Öffentlichkeit mehr darüber erfährt?

Ja, sicher! Durch die modernen Kommunikationsmittel, besonders durch die sozialen Netzwerke, wissen immer mehr IranerInnen von diesen grauenvollen Ereignissen. Im Gegensatz zu den 1980ern sind die Massenhinrichtungen des Sommers 1988 nicht mehr nur Angelegenheit der Familien der Hingerichteten, sondern der ganzen Gesellschaft. Die junge Generation zeigt Interesse an diesen politischen Verbrechen und das gibt mir die Hoffnung, ja die Sicherheit, dass es irgendwann in absehbarer Zeit zur Aufklärung darüber kommen wird. Allerdings brauchen wir, das heißt die AktivistInnen und die Familien der Hingerichteten, dafür die internationale Solidarität.

Das Interview führte Farhad Payar

© Iran Journal

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