Einzelzelle im Ewin-Gefängnis: Sicherheitsabteilung 209
Viele Gefangene verschweigen gegenüber dem Gefängnisarzt die Wahrheit über ihren Gesundheitszustand. Sie haben Angst davor, dass die genannten Krankheiten oder verwendeten Medikamente als Ursache ihres ungewollten Todes im Gefängnis erklärt werden könnten.
Zahnstocher für die Einzelzelle
Als ich in der Sicherheitsabteilung 209 des Ewin-Gefängnisses eintraf, wurde ich, wie bei der Aufnahmeprozedur üblich, zuerst ins Arztzimmer gebracht. Es werden Routineuntersuchungen wie Blutdruck- und Pulsmessungen durchgeführt, und der Gefangene muss Angaben über mögliche Krankheiten oder benötigte Medikamente machen. Diese Angaben müssen mit den Untersuchungsergebnissen übereinstimmen, und das letzte Wort hat der Anstaltsarzt.
Es kommt vor, dass jemand ein Leben lang Blutsenker genommen hat, aber der Arzt vor Ort eine andere Diagnose erstellt; denn die Hauptannahme dort ist, du bist Gefangener, also bist du ein Lügner. Oder sie unterstellen, dass jemand die Medikamente für Selbstmord missbrauchen könnte.
Gefängnisärzte unterscheiden sich von uns gewöhnlichen Ärzten, denn sie gehören der Haftanstalt an. Deshalb verschweigen viele Gefangene ihnen gegenüber die Wahrheit über ihren Gesundheitszustand. Sie haben Angst davor, dass die genannten Krankheiten oder verwendeten Medikamente als Ursache ihres ungewollten Todes im Gefängnis erklärt werden könnten.
Vor allem unter den politischen Gefangenen ist diese Angst ernsthaft verbreitet: dass jemand mit Herzproblemen einen Herzinfarkt erleidet, oder ein Diabetiker wegen erhöhter Zuckereinnahme das Zeitliche segnet, oder ein anderer mit erhöhtem Blutdruck mit Salz Selbstmord begehen könnte. Es gibt andererseits aber auch Menschen, die sich im Gefängnis erst recht ihrer Krankheiten bewusst werden und eben die Gelegenheit nutzen, um sich zu kurieren. Ich selbst würde auch jedem, der bislang wegen anderer Verpflichtungen nicht dazu kam, beispielsweise seine Zähne machen zu lassen, empfehlen, sich die Möglichkeit der kostenlosen Therapie nicht entgehen zu lassen.
Als ich ins Ärztezimmer eintrat, fiel mir die Kamera über uns auf; es gab auch Mikrofone. Die Kamera nahm alles auf, damit die Ärzte keine Fehler begehen, oder damit nichts zwischen Personal und Gefangenem ausgetauscht wird. Das ist übrigens in allen Räumen der Sicherheitsabteilung 209 üblich, dass alles aufgezeichnet wird.
Der behandelnde Arzt erkannte mich und fragte aus Höflichkeit unter Kollegen, ob er etwas für mich tun könne. Was konnte er tun? Vor der Kamera und den Mikrofonen. Nicht einmal ein Telefongespräch oder eine Nachricht an meine Familie, damit sie erfahren, wo ich bin. Ich sagte, ich hätte Probleme mit den Zähnen, ob er einen Zahnstocher für mich hätte. Er konnte mir mit Bedauern nur einen Mundspatel (das Holzstäbchen zur Untersuchung des Halses) geben. Bis zum letzten Tag meiner Inhaftierung nutzte ich einzelne Stücke des Stäbchens und betete für den Arzt.
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Einzelhaft ist die schwerste Foltermethode!
Sie sagen, wir hätten keine Einzelzellen! Das stimmt, denn dort ist Gott mit uns!
Der Revolutionsführer hat angeordnet, dass jeder Tag in Einzelhaft als zehn Tage Gefängnis gezählt werden soll. Ich finde das zu wenig, es müssten hundert sein.
Warum aber ist Einzelhaft – dieses Alleinsein in der Leere – so schwierig? Es ist das Alleinsein, was für den Menschen so schmerzhaft ist. Sogar wenn man in der Menge allein ist. Es ist wie bei Ashura, wo Hosseins Rufe unbeantwortet blieben.
Hadj Abas sagte, dass er, um aus der Eizellzelle rauszukommen, gebrüllt und gegen die Tür geschlagen hatte, damit sie ihn wenigstens zum Verprügeln rausholten, und er wenigstens in dieser Zeit nicht allein blieb. Jene körperlichen Qualen wirken beruhigend auf die anderen, die inneren Qualen.
Lassen Sie mich als Arzt einen Vergleich ziehen: Ist Jucken schwieriger auszuhalten oder Schmerz? Ich denke das Jucken. Wenn es juckt, dann kratzen wir zuweilen solange, bis die Stelle blutet; man beruhigt das Jucken durch Schmerzen!
So ähnlich ist der Vergleich zwischen Einzelhaft und körperlicher Folter. Man muss in Einzelhaft gewesen sein, um die Minuten und Stunden des Verhörs und Folterns schätzen zu lernen. Es ist eine Wonne, wenn die Tür aufgeht, egal aus welchem Grund. Sei es, wenn sie das Essen bringen, oder für einen Spaziergang, oder eben zum Foltern.
Kontakt zu feindliche Allianzen
Am Tag nachdem ich gegen meine ungesetzliche Verhaftung Einspruch erhoben hatte, kam gegen Abend Heydari Fard, der Gehilfe des Staatsanwalts beim Kahrizak-Haftanstalt-Fall, in einem viel zu großen Anzug, als hätte man einen Hirten oder Bauarbeiter in einen Anzug gesteckt.
Es war ihm anzusehen, wie ergötzt er darüber war, dass er nun mit seinem Stift einen größeren als er selbst verwunden konnte. Es lag ihnen daran, dass ich den Forderungen meines Vaters nachkomme. (Der Vater, Ayatollah Abolghassem Khazali, ist Mitglied des Expertenrates und gilt als Befürworter der Regierung Ahmadinedjad. Der politische Streit von Vater und Sohn wurde öffentlich ausgetragen. Anm. d. Red.)
Sein Begleiter, Hadji Mohamadi, war ein heranwachsender, ehrgeiziger Parvenü, dessen Name nun auf der Sanktionsliste der EU steht. Der eine schrieb die gegen mich vorgebrachten Anschuldigungen auf, während der andere die fünfhundert Mio. Toman (ca. 357.000 Euro) Kaution festlegte.
In dieser Nacht wurden vier Vorwürfe gegen mich erhoben, später erübrigten sich drei von ihnen; dafür hat Hadji Mohamadi mit unglaublicher Mühe sieben neue Anschuldigungen gegen mich gefunden! Als er die Kautionshöhe verkündete, sagte er frech, die Akte sei sicherheitsrelevant und ich hätte keine Beschwerdemöglichkeit.
Diesen Satz habe ich später in meinem Beschwerdebrief zitiert. Er sagte noch, sie legen zwar eine Kaution fest, erlauben aber nicht, dass ich sie bezahle. Eine Woche nach meinem Beschwerdebrief kam er erneut, um zu verkünden, dass mein Vater der Meinung sei, ich solle länger hier bleiben, deshalb sei die Kaution ausgesetzt und in Untersuchungshaft umgewandelt worden.
Die erste Anschuldigung gegen mich – „Verstoß gegen die nationale Sicherheit“ – wurde aus Mangel an Beweisen und logischer Begründung fallen gelassen. Ebenso der zweite Vorwurf, „Beunruhigung der öffentlichen Meinung“.
Die dritte Anschuldigung lautete „Kontakt zu feindliche Allianzen“. Worauf ich den Staatsanwaltsgehilfen Heydari Fard bat, mir zu erklären, mit welchen Staaten wir derzeit im Krieg seien. Er entgegnete: „mit Amerika, England und Israel“. Ich wollte wissen, mit welchem dieser Staaten ich Kontakt gehabt haben soll, worauf er sagte: „Du hast Voice of America, Radio Farda und BBC Interviews gegeben.“ Ich erklärte, dass dies keine Staatsmedien seien, und dass sogar Ahmadinedjad amerikanischen und englischen Medien Interviews gebe. Schlussendlich wurde auch dieser Vorwurf fallen gelassen.
Blieb der vierte Vorwurf: „Propaganda gegen den Staat“. Mit weiteren sieben Vorwürfen, die Hadji Mohamadi erfunden hat, wurde das Verfahren gegen mich eröffnet. In Wahrheit wurden alle meine Bestrebungen für den Erhalt des Staates und meine Verteidigung der islamischen Werte als feindliche Propaganda ausgelegt.
Der Grund ist, dass wir diesen Staat unterschiedlich definieren: sie sehen den Staat wie Personen, die die Revolution nicht miterlebt und kaum Anteil daran hatten, sie aber gleichzeitig vom richtigen Weg abgebracht haben. Ich sehe den Staat als Ansammlung von Werten der Islamischen Revolution, die nicht an Personen gebunden sind. In meinem ‚Wertestaat‘ sind nicht Personen Besitzer des Staates, die Werte sind stabil und zu verteidigen, das Recht ist beständig und nicht veränderbar!
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Warum ich über die Einzelzelle schreibe
Über die Einzelzelle zu schreiben empfinde ich als die Pflicht eines jeden, der sie erlebt hat; er muss das Licht in die Hand nehmen und den Alltag dieses dunklen Lochs für die Bevölkerung beleuchten.
Ich habe mehrmals meinem Vernehmer Hadji Hassan gesagt, dass ich ein Buch mit dem Titel „Einzelzelle“ schreiben werde. Am letzten Tag bevor ich wieder freikam, warnte er mich, dieses Buch zu schreiben. Er sagte, ich würde ohnehin keine Veröffentlichungserlaubnis erhalten. Ich entgegnete, ich würde das Buch im Ausland, vielleicht im Libanon, veröffentlichen. Diese Erinnerungen, die ich hier unter der Überschrift Einzelzelle schreibe, sind Blätter jenes Buches.