Musk demaskiert. Das Internet als Herrschaftsinstrument
Geheimnisse bleiben nie geheim. Elon Musks X sorgte vor Kürzem für Aufregung in Iran: Eine neue Funktion der Plattform zeigt, in welchem Land, in welcher Region ein Nutzerkonto angesiedelt ist. Damit sind viele bislang gut gehütete Geheimnisse der Islamischen Republik plötzlich im virtuellen Raum zu besichtigen: Zensoren, die selbst freien Internetzugang haben, gefakte Oppositionelle und Menschenrechtsaccounts, die gar keine sind.
Von Ali Sadrzadeh
یوم تبلی السرایر – „Der Tag, an dem die Vorhänge fallen“ – so lautet Vers 9 der Sure 86 des Koran. Ihm komme dieser Vers in Erinnerung, wenn er an den 23. November 2025 denke, sagt Hossein Razzaq, ein bekannter iranischer Aktivist, der das Land gerade verlassen konnte. An diesem Tag hat Elon Musks Plattform X damit begonnen, eine neue Funktion auf Nutzerprofilen einzuführen. Und dieses kleine Software-Update löste in Iran regelrecht ein politisches Beben aus. Denn seitdem können User*innen einsehen, wo ein Konto registriert, wann es erstellt und wie oft der Nutzername geändert wurde. Das ist für die Teheraner Herrschaft ebenso demaskierend und existentiell wie für ihre Opposition, die hauptsächlich im virtuellen Raum aktiv ist. Weil Musk und Maske in der persischen Transkription gleich geschrieben werden, lässt sich die Häufigkeit des Wortspiels erahnen, das in den sozialen Netzwerken seitdem im Umlauf ist. Nun wissen wir, dass es in Iran privilegierte Menschen gibt, die im Besitz der sogenannten „weißen SIM-Karte“ sind, also freien Zugang zum Internet haben.
Jetzt kann man auf einen Blick nicht nur das Land und die Region der Nutzer*innen erkennen, sondern auch, ob sie ein VPN benutzen, eine „weiße“ SIM-Karte haben oder ihr Handy ein Android oder ein iPhone ist – oder zumindest gewesen ist.
Die iPhones der USA-Genger
Es ist wie ein sozialer Schock, wenn auf solche Weise plötzlich der Vorhang fällt, wenn sich alles Politische in der virtuellen Welt auf einmal wie in einem Theater darstellt, wenn offenkundig wird, dass der radikale Verteidiger der Internetzensur ebenso einen freien Zugang zum Internet hat wie jener bekannte Journalist, der bis dato so engagiert gegen den Filtermechanismus des Internets geschrieben hat, als sei er selbst ein Opfer der Zensur. Plötzlich registriert die Internetgemeinde, dass es keine Fronten mehr gibt, dass alle, Feinde wie Freunde, Insassen eines Boots auf einer sehr rauen See sind, die nur unterschiedliche Rollen spielen.
Da ist Saeed Jalili, Sprecher der Hardliner, Vertreter Ali Khameneis im Nationalen Sicherheitsrat und vehementer Befürworter der Internetzensur, der ebenso filterlos twittert wie der Ex-Außenminister Mohammad Javad Zarif, die bekannte Galionsfigur der Reformer, oder die Regierungssprecherin Fatemeh Mohajerani, die zwischen beiden Polen zu pendeln versucht. Das ist nur die Spitze des Eisbergs.
Der interessanteste Fall ist wahrscheinlich Amir Hossein Sabeti. Von diesem jungen, sehr lauten und ultraradikalen Abgeordneten, der bis zum 23. November fast täglich für totale Internetkontrolle plädierte, wissen wir jetzt: Er hat „weißes“ Internet, er benutzt ein iPhone, oder hat es mal benutzt.
Angebliche Oppositionelle mit freiem Internet
Peinlich ist die Situation für jene Journalist*innen und Aktivist*innen, die als Reformer*innen und Opfer der Internetzensur bekannt waren und nun einer nach dem anderen Reue bekunden und das Publikum um Entschuldigung bitten. Die Liste der Reuigen ist lang. Es kursiert die Zahl von 150.000 Menschen, denen man Zugang zum freien Internet gewährte. Ist das die Gesamtzahl der politischen Klasse, auf die sich die Islamische Republik stützen kann? Oder gibt es auch unter ihnen noch welche, die nicht so treu sind?
Offiziell hat das Internet der privilegierten Klasse unterschiedliche Namen: Journalist*innen-Internet, spezielles Internet für Entwickler*innen und Programmierer*innen, Notfall-Internet, Cyber-Freihandelszone, spezielle SIM-Karten für ausländische Touristen und so weiter.
Doch plötzlich ist man mit erstaunlichen Fällen im oppositionellen Milieu konfrontiert: So weiß man nun, dass bekannte panturkistische beziehungsweise separatistische Webseiten wie AZER-News und GÜNAY AZERBAYCAN-TV, die die Unabhängigkeit der Region Aserbaidschan propagieren, oder die ominösen Accounts, die für eine Unabhängigkeit Kurdistans eintreten, Portale sind, die in Wahrheit mit dem weißen Internet aus Iran selbst arbeiten.
Oder die Seite „Imam Jamkaran“, die mit Karikaturen die Religion auf billige Weise lächerlich macht, dazu Dutzende Accounts, die vorgeblich von Einwohner*innen Londons, Torontos oder Paris betrieben werden und ständig beschreiben, wie schrecklich das Leben im Westen sei: All das wird in Wirklichkeit innerhalb Irans produziert.
Viele royalistische Portale, die regelmäßig mit beleidigendem Vokabular gegen andere Oppositionsgruppen und -persönlichkeiten schimpfen, sitzen nicht im Exil, sondern in Teheran – es gibt sogar schottische Separatist*innen, die mit weißer SIM-Karte aus Teheran twittern. Und das Seltsamste: Einige angebliche „Menschenrechts-Accounts“ haben ihren Standort in Albanien – dem Stützpunkt der Volksmujahedin (MEK).
Geheimdienst steurt das Narrativ
Neulich legte eine regionale Vergleichsumfrage offen, dass das gegenseitige Misstrauen unter den Iraner*innen am größten ist. Seit diesem 23. November weiß jeder, wer den Argwohn befeuert, damit keine organisierte Großopposition entsteht, aller allgemeinen Unzufriedenheit zum Trotz. Das gesellschaftliche Vertrauen ist in dieser „Republik“ etwas ganz Seltenes, kaum existent. Abgesehen von historischen Gründen für dieses Phänomen wissen wir nun um weitere, offenbart die Plattform X uns die Emsigkeit und Effektivität der zahlreichen Geheimdienste, die daran arbeiten, dass das allgemeine Misstrauen und der gegenseitige Argwohn nicht verschwinden. Die Geheimdienste lenken zum großen Teil die Narrative im virtuellen Raum mit.
Ahmad Bakhshayesh Ardestani, Abgeordneter des iranischen Parlaments, sagte am 27. November: „Alle Parlamentsabgeordneten haben ungefiltertes Internet. Sobald sie ins Parlament kommen, wird ihr Internet freigeschaltet. Auch viele Behörden wie die Geheimdienste und Sicherheitsorgane haben weiße SIM-Karten.“ Will ein Normalsterblicher freien Internetzugang, muss er einen VPN-Dienst auf dem Schwarzmarkt kaufen, der von einer mächtigen, mit diversen Geheimdiensten verflochtenen Mafia kontrolliert wird. In einem weiteren Interview mit der Zeitung Etemad sagte Ardestani, der VPN-Markt habe ein jährliches Finanzvolumen von etwa 300.000 Milliarden Toman, umgerechnet 2,5 Milliarden US-Dollar. Verständlich, dass diese Mafia alles tut, damit die Internetzensur bestehen bleibt. Und damit dieser Markt auch konkurrenzlos bleibt, verabschiedete das „Parlament“ im Juni 2025 fast einstimmig ein Starlink-Verbot. Nutzung, Transport, Kauf, Verkauf, Import oder Bereitstellung nicht lizenzierter elektronischer Kommunikationsgeräte für Starlink, das Satelliteninternet von Elon Musk, werden mit Gefängnisstrafen von bis zu 6 Jahren bestraft.
„Die Legitimität einer Herrschaft hängt von vielem ab, dazu gehört zweifellos die Gleichberechtigung in der Kommunikation“ schrieb am vergangenen Dienstag die reformernahe Tageszeitung Ham Mihan und fügte hinzu, wenn in den sozialen Netzwerken eines Landes der häufigste Verweis dem Buch „Farm der Tiere“ von George Orwell gehöre, dann müsse die Herrschaft dieses Landes über ihre Legitimität lang nachdenken. Das Wort Iran fehlt zwar in diesem Kommentar, doch es war auch nicht notwendig.
Foto: Iran Journal
