Aufklärung in der islamischen Welt
Der Essayist und langjährige Korrespondent Christopher de Bellaigue stellt das 19. Jahrhundert in der islamischen Welt in ein neues Licht. Er beleuchtet die islamische Aufklärung.
Von Arnold Hottinger
Christopher de Bellaigue schreibt in einem früheren Buch von sich selbst, er sei als junger Mann in Istanbul zuerst ein wahrer Türke geworden, später jedoch nach Iran gekommen und dort zum echten Iraner geworden, auch dank seiner iranischen Frau. Nur wenn dies notwendig oder zweckmäßig war, pflegte er den „Engländer zu spielen“.
Produkte zweier tief unterschiedlicher Kulturen
Erst als er eigene Kinder bekam, empfand er den Drang, diesen eine Identität einzuimpfen. Dem auch seine Frau von ihrer iranischen Seite her nachlebte. In seinem vollendeten Stil sagt de Bellaigue zu dieser späteren Erfahrung: „Plötzlich waren wir nicht mehr zwei weltgewandte Mitglieder der Gemeinschaft der Nationen, die sich zusammengefunden hatten, um ein ungebundenes Leben zu genießen.
Stattdessen fanden wir uns als Produkte zweier tief unterschiedlicher Kulturen, gefangen in einem Raum mit zwei unbeschriebenen glitzernden Tafeln, die den Meißel von Kultur und Erziehung erwarteten.“ *
Es gab eine Aufklärung in der islamischen Welt!
Von London aus hat dann de Bellaigue ein Buch** geschrieben, mit dem er zeigen wollte, dass es tatsächlich eine Aufklärung in der islamischen Welt gegeben hat. Der Vorgang der „Reformbewegungen“ in den drei Fokalpunkten der islamischen Kulturen, Kairo, Istanbul und Teheran, die sich seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts veranlasst sahen, von den europäischen Nachbarkulturen „zu lernen“, um selbst unter dem wachsenden Druck dieser Nachbarn zu überleben, ist oftmals geschildert worden. Doch de Bellaigue bringt einen neuen Standpunkt ein.
Bisher war die Schilderung dieser „Reform“ vom Gesichtspunkt jener gesehen, die sich als die Urheber und die Besitzer der Errungenschaften der Aufklärung sahen. Sie beschrieben, wie jene anderen Kulturen von der unseren lernten. Von ihrem Gesichtspunkt aus war der Lernprozess immer ein ehrenwertes Bemühen, jedoch unvollständig, so wie WIR konnten SIE eben doch nicht werden, obwohl sie fleißig von uns zu lernen versuchten. Registriert wurde das „beinahe“ aber eben doch nicht ganz Erreichte, der „Fortschritt“ von Schülern, die unsere Schüler und Nachahmer blieben.
Aus der Sicht der Bewerkstelliger
De Bellaigue gelingt es, die Entwicklung vom Standpunkt der sie in Gang Setzenden selbst zu schildern. Er vermittelt als erster, was es für Araber, Türken, Iraner im 19.Jahrhundert bedeutete, mit der fremden Kultur in Kontakt zu kommen, und er hebt hervor, wie stark über Jahre diese fremde zur neuen und eigenen Lebensform wurde.
Seine Grundthese ist, dass der islamische Nahe Osten eine echte Aufklärung durchgemacht hat. Gewiss, die europäischen Vorbilder bestanden und wurden übernommen. Doch er legt den Akzent auf die Arbeit der Übernahme, die Leistungen, die nahöstliche Persönlichkeiten als Aufklärer ihrer Gesellschaften vollzogen, nicht auf den Umstand, dass diese Übernahmen des Fremden in die Nachbarkultur notwendigerweise unvollkommene sein mussten, gemessen an dem, was in Europa bestand.
Muslimische Träger der neuen Kultur
Schließlich ging es darum, die eigene Gesellschaft aufzuklären, nicht sie zugunsten fremder Modelle zu liquidieren. Die bekannten Namen der frühen, zu Lernzwecken nach Paris und nach London entsandten Pioniere kommen auch bei de Bellaigue vor. Doch von ihm erfährt man mehr Einzelheiten über ihr Leben und ihre Einwirkung auf die eigenen Gesellschaften, so dass sie als Personen in den Mittelpunkt rücken. Bisher waren nahöstliche Aufklärer wie der Ägypter Rifaat at-Tahtawi (1801–1873), der Iraner Mirza Saleh (ca. 1790–1840), der Grossbritannien besuchte und beschrieb, der Türke Ibrahim Sinasi (ausgesprochen „Schinasi“ 1825–1871), der entscheidend mithalf das moderne Türkisch als Gebrauchssprache einzuführen und die erste türkische Zeitung von Bedeutung herausbrachte, als bloße Vehikel der Übertragung gesehen und geschildert worden.
Vielen anderen, die hier auch zu einer neuen Darstellung kommen, geschah das Gleiche. Das neue Buch bringt sie ins Licht als aktive Träger der neuen Kultur, welche die eigene umformen halfen.
Der Verfasser hebt hervor, dass in der Tat eine große Wandlung der traditionellen islamischen Gesellschaften bewerkstelligt wurde durch Menschen, die diesen Gesellschaften angehörten. Das Augenmerk verschiebt sich von: „sie sind fast so geworden wie wir“ zu: „sie haben Werte gefunden und in ihre eigenen Gesellschaften einzubauen vermocht, die diese von Grund auf und bleibend veränderten“.
Unvergleichliches Einfühlungsvermögen
Das europäische Auge, das auf die Nachbarkulturen blickt, sieht bis heute die Unterschiede: „Dies und jenes ist doch ganz anders als bei uns, trotz aller Bemühungen, von uns zu lernen und zu übernehmen.“ Das eigene Auge sieht, wie die Zeiten sich ändern, die eigene Kultur durch die eigenen von den Unsrigen unternommenen Anstrengungen sich gänzlich verändert hat, „nichts ist mehr wie damals!“
De Bellaigue ist dank einem unvergleichlichen Einfühlungsvermögen in der Lage, das Geschehen mit den Augen der Protagonisten zu sehen, die ihre bisher traditionellen Gesellschaften aufklären, statt, wie es in allen früheren Darstellungen geschah, mit den Augen der Europäer oder anderen Bewohner „des Westens“, die billigend oder missbilligend von „Verwestlichung“ sprechen.
Reaktion nach der Aufklärung
Fortsetzung auf Seite 2