„Auch im Morast kann Schönes wachsen“

Im Iran, wie ich ihn früher kannte, gab es noch keine Mobilfunknetze. Das ist der Iran, wie ich ihn liebe, ohne so viel Medientechnik. Der Familienzusammenhalt ist in unseren Genen und er ist zugleich auch ein Zeichen von Tradition und Respekt – zum Beispiel, dass wir vor den Eltern nicht die Beine ausstrecken. Ich weiß nicht, wie es heute im Iran ist, weil ich schon lange nicht mehr dort gewesen bin, aber wenn alle Traditionen verloren gegangen wären, fände ich es schade. Bei den Menschen auf dem Land haben die Traditionen länger Bestand als bei den Bewohnern der Großstädte. Zum Beispiel kann ein Schäfer auf dem Land seine Schafe nicht auf Instagram herumspazieren lassen, sondern muss jeden Tag mit seinen Tieren in die Natur. Meine Liebe zu diesen Traditionen im Iran ist immer noch da.

Aufgewachsen sind Sie im Gottesstaat Iran – gibt es heute noch etwas, das Ihnen heilig ist?

Heiligkeit ist ein großes Wort. Ich weiß nicht, ob der Begriff heilig heute noch seine Heiligkeit behalten hat. Was heilig war, hat Folter, Schmerzen und schlimme Dinge verursacht. Es gibt eine Verbindung zwischen dem Wort Heiligkeit und einer Katastrophe oder einem Blutbad. Deswegen hat der Begriff heilig für mich seine ursprüngliche Bedeutung verloren. Ich habe meinen Glauben, aber da das Wort heilig seine Bedeutung verloren hat, würde ich es nicht für meinen Glauben verwenden. Für mich gibt es keine heiligen Dinge, ich habe aber meine humanen Überzeugungen und meinen Glauben, der sich aus Menschlichkeit speist und nicht von auswärts aus dem Himmel kommt. Für mich ist Menschlichkeit vielleicht heilig und es wäre besser, wenn man das Wort heilig durch menschlich ersetzen würde. Die menschlichen Werte sind mir wichtig, um die wahre Spiritualität zu entdecken.

Der deutsche Filmregisseur R.W. Fassbinder sagte einmal: »Und nur wer wirklich mit sich identisch ist, braucht keine Angst mehr vor der Angst zu haben. Und nur wer keine Angst hat, kann wertfrei lieben, das äußerste Ziel aller menschlichen Anstrengung: sein Leben leben.« Können Sie im Westen Ihr Leben leben?

Viele Menschen verlassen ihre Heimat nicht, weil sie verfolgt oder unterdrückt werden, sondern weil sie ihr eigenes Leben leben wollen. Manchmal kann man auch in einem Gefängnis so leben, wie man will. Und manchmal kann es auch passieren, dass man in der freien Welt wie im Westen nicht so leben kann, wie man möchte. Man kann unbewusst ein Sklave des Systems werden – auch in einem freien Land. In kapitalistischen Ländern sieht man, dass viele Menschen Sklaven des Systems sind. Das Interessante ist, dass ich im Iran, trotz Begrenzungen und Unterdrückung, relativ frei leben konnte. Innerlich war ich sehr frei, bis ich gemerkt habe, dass das Regime mich bremsen will. In diesem Augenblick hatte ich das Gefühl, mit dem Kopf gegen eine Wand zu stoßen. Als ich den Iran verlassen habe und im Westen lebte, brauchte ich sehr lange, um mich zu finden. Manchmal ist das Leben in Freiheit oder im Exil schlimmer als im Gefängnis. Ich versuche in dieser Welt, wo es politische Freiheit gibt, gleichzeitig auch immer meine innere, humane Freiheit nicht zu verlieren. Menschlich frei zu sein ist für mich die wertvollste Freiheit, die man erreichen kann.

Golshifteh Farahani - Szenenbild aus dem Film "Alles über Elly"
Golshifteh Farahani – Szenenbild aus dem Film „Alles über Elly“

 
Wann empfinden Sie einen Menschen als schön?

Ich empfinde einen Menschen als schön, wenn er Herr über sein Wesen ist. Der wichtigste Kampf ist die Auseinandersetzung mit sich selbst. Einen Kampf mit der Außenwelt gibt es nicht, das sind nur Einbildungen oder Illusionen. Vor den Menschen, die Herr über ihr Wesen geworden sind, verbeuge ich mich. Diese Menschen sind wie eine schöne Blume für mich. Wenn der Mensch diesen Punkt erreicht hat, dann hat er den inneren Kampf gewonnen und sein Schwert auf den Boden geworfen. Und ich habe nur wenige getroffen, vielleicht einen oder zwei Menschen, auf die das zutrifft. Man kennt aus der Geschichte Personen wie Buddha, Bayazid Bistami oder Al-Halladsch, aber wenn man das Glück hat und solche Menschen wirklich trifft, dann ist das eine riesige Erfahrung. Das ist für mich wirklich der Gipfel der Schönheit.

Taucht der Iran in Ihren Träumen auf?

Ja, es gibt einen Feigenbaum, und wenn ich davon erzähle, muss ich weinen. In der Mitte einer Wüstenlandschaft im Iran befindet sich dieser Baum und in der Tiefe meines Herzens möchte ich diesen Baum noch einmal wiedersehen. Ich stelle anderen Menschen immer die Frage: Wenn ihr als Baum auf die Welt kommt, wo möchtet ihr gepflanzt werden? Wenn ich ein Baum wäre, möchte ich dieser Feigenbaum sein. Dieser Baum, dessen Früchte von unvergleichlicher Süße und Köstlichkeit sind, steht in der Wüste an einer Süßwasserquelle und rundherum gibt es nichts. Ich sehe mein Leben und meinen Tod an dem Fuße des Baumes. Dieses Bild bedeutet für mich, dass die Rückkehr in den Iran die Rückkehr zu diesem Baum ist. Wenn ich mir meine Rückkehr in den Iran vorstelle, denke ich nicht an die Fluggastbrücke eines Flughafens oder mein Elternhaus, sondern an diesen Baum. In meinem Kopf gibt es das Bild, dass ich mich auf einem Weg in der Wüste diesem Baum nähere.

Welche Botschaft würden Sie jungen Menschen im Iran geben, die nach der Islamischen Revolution geboren wurden und die Geschichte des Iran nur aus Erzählungen kennen?

Ich sehe mich nicht in der Position, Menschen eine Botschaft zu geben; ich nehme Botschaften meistens eher an. Meine Botschaft ist das, was ich bin und was ich mache. Ich denke, in einem Krieg ist derjenige der Gewinner, der zuerst aufhört und sein Schwert auf den Boden wirft. Ich glaube, dass wir alle zuerst in uns selbst blicken sollten, bevor wir auf die Außenwelt schauen, denn die Außenwelt wird durch die innere Welt gebildet. Und besonders wir Iraner haben unsere innere Welt vergessen und schauen nur nach außen. Erst wenn Du mit Dir selbst fertig bist, kannst Du eine bessere Außenwelt aufbauen. Solange wir unsere inneren Auseinandersetzungen nicht bewältigen, können wir in der Außenwelt nichts verbessern. Eher verschlechtern wir sie. Rumi sagt: “Und aus der Tiefe deines Herzens, komm heraus und sei ein Schmetterling, verlass dein Haus.” Das heißt für uns, wir müssen uns von unseren körperlichen und materiellen Dingen befreien. Und wir können die Außenwelt nicht ohne diese innere Befreiung verändern.

© KILIAN FOERSTER

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