„Die Religion soll die Frauen in Ruhe lassen“

Am 8. Juli wurde Shaparak Shajari-Zadeh wegen mehrfacher öffentlicher Abnahme ihres Kopftuchs zu 20 Jahren Haft verurteilt. Sie hatte an den Protesten der „Mädchen der Revolutionsstraße“ gegen das vom Staat aufgezwungene Kopftuch teilgenommen. Masih Alinejad, Initiatorin von zwei Kampagnen gegen die Zwangsverschleierung, bezeichnet im Gespräch mit dem Online-Magazin Tableau die Reaktion des islamischen Regimes auf die protestierenden Frauen als „verzweifelt“. Iran Journal dokumentiert das Interview.

Masih, Du bist die einzige Person, die zwei Kampagnen gegen die Kleidervorschriften für Frauen im Iran initiiert hat. Wie erfolgreich konnte die Kampagne „Meine heimliche Freiheit“ den staatlichen Zwang darstellen und den Unterschied zwischen dem Aussehen der Frauen zuhause und auf der Straße offenlegen?

Als ich mit der Kampagne „Meine heimliche Freiheit“ anfing, hörte ich immer wieder von einem Teil der Frauenaktivistinnen, dass man mit Facebook doch keinen Widerstand leisten könne, oder: „Was soll ein heimlicher Widerstand?“. Widerstand solle doch öffentlich sein. Ich antwortete immer, dass das Wort Freiheit keine Attribute brauche. Und dass wir es ironisch meinten, wenn wir von einer „heimlichen“ Freiheit sprechen würden, weil es im Iran keine Freiheit gibt. Später wurden die Frauen, die mir Bilder von ihren heimlichen Freiheiten geschickt haben, durch diese Aktion und durch die Macht der Medien mutiger. Sie konnten feststellen, dass sie nicht allein sind und dass sie gehört und gesehen werden.
Kein Regime hat Angst vor den Freiheiten, die heimlich ausgelebt werden. Aber wenn die großen internationalen Medien davon erfahren, dann wird es für die Machthaber ein Problem. In Frankreich hielt ein Reporter das Bild einer Frau, die sich mit ihrer heimlichen Freiheit – ohne Kopftuch – fotografiert hatte, Präsident Rouhani vor und konfrontierte ihn mit dem Thema Zwangsverschleierung im Iran. Die Prediger der öffentlichen Freitagsgebete sprechen mittlerweile darüber und der staatliche Rundfunk des Landes sendete einige Beiträge zum Thema. Das beweist, dass das Thema Zwangsverschleierung im Iran durch die Kampagne „Meine heimliche Freiheit“ mittlerweile in die Öffentlichkeit gelangt ist und sogar international diskutiert wird. Kein Tyrann würde freiwillig für Freiheit sorgen. Diese müssen die Unterdrückten einfordern.

Inwiefern konntest Du die Freiheit einfordern, als Du noch im Iran gelebt hast? Welche Möglichkeiten hat man da überhaupt?

Durch die jahrelange Gehirnwäsche, der wir alle ausgesetzt waren, wollten wir Journalistinnen uns für die größeren Sachen einsetzen, für die Bekämpfung der politischen Korruption oder für die größeren sozialen Freiheiten. Deshalb haben wir das Kopftuch toleriert, um aus dieser „Kleinigkeit“ keine große Sache zu machen.
Ich habe damals bei mehreren reformistischen Tageszeitungen gearbeitet. Immer wenn ich wegen meiner Kleidung beleidigt wurde und das bei meinen KollegInnen thematisiert habe, haben alle gesagt, das sei doch nichts, das sei normal. Also selbst die Redaktion einer reformorientierten Zeitung hat das als normal empfunden. Meine KollegInnen sagten: „Wir können dagegen nichts unternehmen, wir können derzeit über die Zwangsverschleierung nicht reden.“

Das Video zeigt Shaparak Shajari-Zadeh:

Ich habe drei reformistische Politiker zum Thema Zwangsverschleierung befragt: Mohammad Khatami (der damalige Präsident), Mehdi Karroubi (der einstige Parlamentspräsident und Präsidentschaftskandidat von 2009, der im Hausarrest sitzt) und Akbar Haschemi Rafsandschani (der verstorbene Chef des Schlichtungsrates und einstige Präsident). Ich habe sie gefragt: Wie würden sie reagieren, wenn beispielsweise auf einer Reise in Frankreich die örtlichen Behörden anordnen würden, dass ihre Frauen ihre Verschleierung abnehmen und sich kurzärmelig anziehen sollen? Herr Karroubi antwortete, dass er das als eine Beleidigung auffassen würde und der Westen immer versuche, den Islam zu schwächen. Herr Khatami sagte, dass er sich dagegen wehren würde. Herr Rafsandschani sagte, dass seine Tochter stark genug ist und seine Unterstützung nicht brauche. Ich fragte die drei Politiker daraufhin, warum zwingt man denn die ausländischen Frauen, sich im Iran zu bedecken? Herr Karroubi lachte und wusste keine Antwort. Herr Khatami sagte, dass es im Iran Gesetz sei und Herr Rafsandschani beantwortete die Frage erst gar nicht. Als das Thema Zwangsverschleierung einmal unter den KollegInnen der Zeitung thematisiert wurde, haben alle am Ende gesagt, das sei die Achillesferse der Islamischen Republik. „Wir können dagegen nichts machen“, hat man gesagt. Auch heute sind die iranischen Medien der Meinung, dass das Thema keine Priorität hat. Durch die Macht der sozialen Netzwerken jedoch drücken die Menschen ihre Stimme den Mainstream-Medien auf.

Wie kamst Du von der Kampagne „Meine heimliche Freiheit“ zu der Kampagne „Weiße Mittwochs“, die die Menschen aufzufordert, Mittwochs mit einem weißen Kopftuch hinauszugehen?

Für mich kam die Zeit für einen Wechsel von einer Online-Kampagne zur realen Welt. Allerdings waren es die Frauen selbst, die mich auf diese Idee brachten. Diejenigen, die bei der Kampagne „Meine heimliche Freiheit“ mitgemacht haben, haben gesagt, wir haben unsere Bilder veröffentlicht, jetzt wollen wir uns auf der Straße treffen. Ich dachte mir daraufhin, dass wir uns am besten eine Farbe und einen Wochentag aussuchen. Diese Farbe könnte als ein Symbol der Verbindung dienen, dachte ich mir. Eine gespaltete, zersplitterte Gesellschaft kann durch so ein Symbol zusammenfinden.
Als die Kampagne „Weiße Mittwochs“ losging, war ich selber überrascht von den mutigen Videos, die mir die Iranerinnen schickten. Es waren marschierende Frauen mit einem weißen Schal, eine Einzel-Demo, eine Einzel-Revolution gegen jegliche Unterdrückung. Diese Videos erscheinen bei CNN, in dem Sender, in dem der iranische Präsident Rouhani und sein Außenminister Zarif behaupten, die Würde der Frauen würde im Iran respektiert werden.
Durch solche Aktionen drückt die iranische Frau ihre Stimme dem Präsidenten, dem Außenminister und den großen Medienhäusern auf und sagt, dass diese Behauptungen eine Lüge seien. Sie sagt, dass sie eine Frau sei, die seit ihrem siebten Lebensjahr wie eine Sklavin den Schleierzwang hinnehmen muss.

Die Teilnahme an solchen Aktionen ist ja nicht ohne Gefahr. Warum riskieren die iranischen Frauen die ernstzunehmenden Konsequenzen?

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