„Auch im Morast kann Schönes wachsen“

Ich würde diese Schuldgefühle nicht nur auf den Orient oder unsere Region begrenzen. In unserer Region sind die sexuellen Gefühle einer Frau ein Tabu. Dieses Schuldgefühl ist in der Kultur und den Genen tief verankert und hat eine lange Vorgeschichte. Das hat nichts mit heute zu tun, sondern beruht auf unseren Vorfahren und unserer Geschichte. Ich denke, dass Mädchen, die in den 1990er Jahren und danach geboren wurden, nicht mehr so starke Schuldgefühle mit sich tragen. Ich bin allerdings in den vergangenen zehn Jahren nicht mehr im Iran gewesen und habe die Veränderungen unter jungen Frauen nicht selbst erlebt. Doch tatsächlich führen heute viele junge Frauen im Iran ein relativ freies sexuelles Leben. Auch wegen des Schuldgefühls in meiner Generation kann man sagen, dass unser Körper nicht uns gehört, und wenn es ein sexuelles Vergnügen gibt, dann dürfen wir es nicht wirklich zeigen.

Sie haben in Abbas Kiarostamis Film „Shirin“ mitgespielt, der auf der alten persischen Liebesgeschichte „Khosrow und Shirin“ basiert. Würden Sie sich aus Liebe – wie Prinzessin Shirin – für jemanden opfern?

Nein. Ich habe alles für mein Leben und meine Arbeit als Schauspielerin geopfert und ich glaube fest an meine Arbeit. Ich habe hart für meinen Beruf geschuftet. Von meinem 14. Lebensjahr bis heute habe ich immer so weitergemacht. Ich glaube, es gibt niemanden, für den ich mich opfern würde, da ich mich für ein größeres Ziel opfere.

Welche Erfahrungen, die Sie als Schauspielerin mit Behörden im Iran gemacht haben, haben Sie besonders getroffen?

Da ich keine Fernsehschauspielerin war, hatte ich wenig mit dem Kulturministerium zu tun. Als Filmschauspielerin habe ich zwar Rollen übernommen, die der Opposition Freude bereiten konnten, allerdings war ich eine sehr stille Person. Doch nach der Produktion von “Body of Lies” musste ich in den Iran. Da haben die Probleme angefangen. Ich wurde im Kulturministerium befragt und wurde von dort an den Geheimdienst verkauft. Ich war allein zum Kulturministerium gegangen und habe den Mitarbeitern gesagt, dass der Film nichts mit dem Iran zu tun und dass ich nicht mitgemacht hätte, wenn es so gewesen wäre. Zum gleichen Zeitpunkt hatte ich im Ausland einen Drehtermin für den Film “Prince of Persia”. Aber der Geheimdienst hatte meinen Pass eingezogen und ich konnte nicht zu den Dreharbeiten fliegen.
 

Golshifteh Farahani - Szenenbild aus dem Film "Shirin"
Golshifteh Farahani – Szenenbild aus dem Film „Shirin“

Von da an war ich nur noch mit dem Revolutionsgericht und dem Geheimdienst beschäftigt. Das war die schlimmste Zeit meines Lebens. Ich kam mir vor wie ein Ball, der zwischen Geheimdienst und dem Revolutionsgericht hin und her geworfen wird. Permanent wurde ich angerufen und vorgeladen. Zu den Terminen habe ich jedes Mal extra Unterwäsche mitgenommen, weil ich Angst vor einer Verhaftung hatte. Jede Vorladung war eine starke nervliche Belastung, denn niemand weiß, ob man von den Vorladungen des Geheimdienstes wieder heil zurückkommt. Dabei hatte Mahmoud Ahmadinedschad meinem Vater versprochen, dass mir nichts passiert. All diese Angst, der Stress und die Konfrontation mit den Angestellten der Behörden waren der Grund, warum ich nicht wieder den Iran zurückgegangen bin.

Welche ihrer bisherigen Rollen hat Sie am stärksten beeinflusst?

Eine Antwort auf diese Frage fällt mir schwer, weil jede Rolle, die ich gespielt habe, ein Teil meines Lebens und meiner Seele ist. Alle Rollen, die ich übernommen habe, haben mich beeinflusst. Besonders die Filme im Iran waren sehr wichtig für mich, zum Beispiel “Santouri”, “The Tear of Cold” (Ashk-e sarma) oder “Stein der Geduld”. Diese Filme haben mich wirklich beeindruckt. Ich kann also nicht nur einen Film nennen, da alle Filme mich wie die Äste eines Baumes geformt haben.

Ist in Ihren Augen aus der iranischen Revolution 1979 etwas Positives hervorgegangen?

Da ich die Zeit vor der Revolution nicht erlebt habe, kann ich diese Frage kaum beantworten.
Aber nach der Revolution kann man sagen, dass – egal was passierte – auch die schlimmen Dinge eine gute Seite haben. Das Beste an der Revolution war, dass sie das wahre Gesicht einer politischen Religion oder der Mischung von Religion und Politik aufgezeigt hat. Und die Menschen haben festgestellt, dass sie genau diese Mischung nicht wollen. Das Ergebnis dieser Mischung aus Politik und Religion ist die fürchterliche Katastrophe, die wir jetzt haben. Selbst unsere traditionelle konservative Bevölkerung hat verstanden, dass Religion Privatsache ist. Und daneben haben die Leute gelernt, dass die streng konservativen und religiösen Führer nicht das Land regieren und managen können. Ich glaube, das war das größte Geschenk der Revolution.

Alle monotheistischen Religionen, wenn sie streng konservativ und patriarchalisch ausgelegt werden, verfolgen einen Jungfrauenkult bei unverheirateten Frauen. Das heißt, entweder ist die Frau Hure oder Heilige. Wie stark ist dieser Jungfrauenkult fast 40 Jahre nach der Revolution im Iran?

Mit dieser Frage kommen wir wieder auf mein Bild der iranischen Frau als besetztes Land zurück. Die Angst der Männer in unserer Gesellschaft führt zu diesem Ergebnis. Warum sind die Männer so ängstlich? Weil die Frau die einzige Person ist, die weiß, wer wirklich der Vater eines Kindes ist. Der Jungfrauenkult hat nicht an erster Stelle mit dem Islam zu tun, sondern kommt eher aus der Geschichte. In der Frühzeit haben die Menschen gelernt, dass man Samen von Pflanzen zur Vermehrung nutzen kann. Seitdem haben die Männer versucht, das Saatgut zu sammeln und bei sich zu behalten. Und dann haben sie auf diese Weise auch die Frauen gesammelt, weil die Frauen für die Kinder – also den Nachwuchs – verantwortlich waren. Mit dem Jungfrauenkult versuchten die Männer, die Frauen besser zu kontrollieren; es war also für die Männer ein Schlüssel für das besetzte Land. In meiner Zeit im Iran hatte der Jungfrauenkult noch eine Bedeutung, aber heute spielt er nicht mehr so eine große Rolle. Und die geringere Bedeutung der Jungfräulichkeit heute ist auch eine Art Aufstand der Frauen gegen die Männer. Im Grunde geht der Jungfrauenkult immer auf den Anspruch der Männer zurück, Frauen als ihr Eigentum zu betrachten. Im 21. Jahrhundert gibt es nichts, was so lächerlich ist, wie dieser Jungfrauenkult.

Während im Iran bis heute die Familie das gesellschaftliche Zusammenleben bestimmt, ist die westliche Gesellschaft eher von Individualismus geprägt. Wie empfinden Sie das Fehlen dieser starken Rolle der Familie in der westlichen Gesellschaft?
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