Zauberwort Referendum

Der iranische Revolutionsführer Ali Khamenei steht unter beispiellosem Druck aus dem In- und Ausland. Die Proteste im Iran halten an und werden zunehmend gewaltsamer. Eine Koalition aus Europäern, Amerikanern, Israelis und Arabern will den Einfluss des Iran in der Region zurückdrängen. Und alle reden von einem Referendum – doch jeder versteht etwas anders darunter.
Von Ali Sadrzadeh
Die Vierzig gilt als Schicksalszahl – im Islam ebenso wie in vielen anderen Religionen. Sie ist die Zahl des Generationswechsels; die volle Vernunft erreicht man im vierzigsten Lebensjahr. Prophet Mohammed empfing erst im Alter von 40 Jahren Gotteseingebungen; jedes Verstorbenen gedenkt man am vierzigsten Tag seines Ablebens. Am sogenannten Arabiin, dem vierzigsten Tag der Ermordung von Imam Hussein im Jahre 680 bei der Schlacht von Kerbela, pilgern alljährlich Millionen Schiiten in diese irakische Stadt. Seiten ließen sich füllen mit Mythen und Mysterien, die sich um diese Zahl ranken. Selbst das Verbotene, der Wein, erreiche seine volle Reinheit erst am Vierzigsten, dichtete vor 700 Jahren Hafiz, der große persische Lyriker und berühmte und bekennende Weinliebhaber. Die Islamische Republik beginnt dieser Tage ihr vierzigstes Lebensjahr.
Ein Geburtstag unter Spannungen
Dass im vierten Jahrzehnt nach der Revolution die Menschen immer noch revolutionär seien, sei ein Gotteswunder, das in anderen großen Revolutionen dieser Welt nicht vorgekommen sei, weder bei der französischen noch bei der russischen, sagte der iranische Revolutionsführer Ali Khamenei am vergangenen Sonntag.
Den 39. Geburtstag der Revolution hatte man genau eine Woche vorher gefeiert. An jenem Tag aber hatte Khamenei geschwiegen. Er musste abwarten und zusehen, wie der Tag ablief. Denn diesmal war der Jahrestag überschattet von inneren Spannungen und äußeren Unwägbarkeiten. Gerade waren vier Wochen lange landesweite Proteste brutal niedergeschlagen worden, Dutzende Demonstranten waren ums Leben gekommen. Mehrere Verhaftete wurden in Polizeiwachen oder Gefängnissen getötet. Sie hätten Selbstmord begangen, wird später ein Sprecher der Justizbehörde verkünden. All das begleitete wie Warnzeichen die staatlich organisierten Feierlichkeiten.
Khamenei musste sich deshalb gedulden, zumal einige User in den sozialen Netzwerke verkündet hatten, sie wollten in diesem Jahr die offiziellen Straßenaufzüge ummodeln. Die Sicherheitskräfte hatten ihrerseits demonstrativ wiederholt mitgeteilt, ein dichtes und umfassendes Überwachungsnetz werde die Feiernden schützen. Später lobte Präsident Hassan Rouhani sich selbst: Er habe verhindert, dass an diesem Tag zu viele Waffen zur Schau gestellt würden. Wie auch immer. Man brachte schließlich den Tag weniger bombastisch als früher, aber ohne große Zwischenfälle über die Bühne. Für die internationalen Nachrichtenagenturen jedenfalls war das Ereignis des Tages im Iran in diesem Jahr nicht berichtenswert. Schon um drei Uhr nachmittags erklärte der Teheraner Polizeichef die Feierlichkeiten für beendet. Denn man fürchtete den Abend und die Dunkelheit. Das Geburtstagsfest war eher ein „Dienst nach Vorschrift“, eine Art Pflichterfüllung.

staatlich organisierte Demonstration aus Anlass des 39. Jahrestag der Revolution in Teheran
Staatlich organisierte Demonstration aus Anlass des 39. Jahrestag der Revolution in Teheran

 
Der Mächtige, der weint
Eine Woche danach sah der Revolutionsführer die Zeit gekommen, eine Bilanz der vergangenen Jahrzehnte zu ziehen. Khamenei ist ein versierter Redner. Reden, Predigen ist sein eigentlicher Beruf. In schwierigen Situationen, in denen er schwach da steht, versteht er sich persönlich und gefühlsbetont einzubringen. Wenn notwendig, weint er öffentlich, um seiner Rede etwas Persönliches und Emotionales beizumengen.
Der mächtigste Mann des Iran kann sich sogar als machtlos und selbst als Opfer darstellen. Eine Szene aus dem Jahr 2009 bleibt unvergesslich. Auf dem Höhepunkt der Grünen Bewegung, als Millionen auf den Straßen gegen Wahlbetrug protestierten und die ganze Welt mit Spannung auf eine angekündigte Reaktion Khameneis wartete, hielt er zunächst eine sehr harte, gar beängstigende Rede und kündigte das gewaltsame Vorgehen der Sicherheitskräfte in den nächsten Tagen an. Doch am Ende sagte er weinend mit Verweis auf seine gelähmte rechte Hand, er werde „diesen beschädigten Restkörper Gott opfern“. Sein Publikum schluchzte laut und heftig mit. Am nächsten Tag landeten Hunderte hinter Gittern, Moussavi und Karrubi, die unterlegenen Präsidentschaftskandidaten, wurden unter Hausarrest gestellt, und die Justizmaschinerie begann unverzüglich mit ihren abschreckenden Schnellurteilen.
Es brodelt
Auch am vergangenen Sonntag wusste Khamenei genau, wie schwach und beschädigt er dasteht. Er verbringe Abende mit dem Lesen der Geheimberichte aus dem ganzen Land, berichteten Vertraute. Deshalb wusste er genau, dass es im Land brodelt. Er konnte auch nicht überhören, dass gerade seine Person Zielscheibe der Proteste war. Vier Wochen lang riefen die Demonstranten „Nieder mit Khamenei“, und immer noch haben die Sicherheitskräfte damit zu tun, diese ständig wieder auftauchende Parole von Häuserwänden zu tilgen.
Zufall oder nicht: Wenige Stunden vor Khameneis Auftritt meldeten sich seine treuesten Sozialwissenschaftler von der Universität Teheran zu Wort – eine interdisziplinäre Gruppe, die nach eigenem Bekunden den „islamischen Dschihad“ wissenschaftlich vorantreiben will. ISPA (Iranian Study Polling Agency) heißt sie und betreibt Meinungsforschung. Ihre Auftraggeber sind hauptsächlich staatliche Einrichtungen, die Ergebnisse der Umfragen oft geheim. An diesem Tag sollte die ISPA die Hintergründe der wochenlangen Unruhen beleuchten. Auftraggeber war Rouhanis Innenministerium. „75 Prozent der Iraner sind mit ihren Lebensbedingungen unzufrieden“, war der wichtigste Fakt, den die regimetreuen Wissenschaftler vortrugen.
Selbsterniedrigung als Machtinstrument
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