100 Tage Rouhani

Irans Regierungschef Hassan Rouhani hatte versprochen, innerhalb der ersten 100 Tage seiner Amtszeit sowohl politische und wirtschaftliche als auch gesellschaftliche und kulturelle Veränderungen durchzusetzen. Anfang November wollte der Präsident die Nation darüber informieren. Doch sein Bericht lässt auf sich warten. Waren das nur Wahlkampfslogans?
„Die Idee des 100-Tage-Résumés geht auf den amerikanischen Präsidenten Franklin Delano Roosevelt zurück“, schreiben iranische Internetportale. Roosevelt hatte im Zuge seines „New Deal“-Programms versprochen, innerhalb dieser Frist erste Weichen für die Rettung seines Landes aus der „großen Depression“ zu stellen. Um dieses Ziel zu erreichen, hatte der amerikanische Präsident damals den Kongress um volle Unterstützung gebeten – und diese auch erhalten.
Anders als der iranische Präsident Rouhani: Bereits bei der Auswahl seiner Minister musste der gemäßigte Geistliche die Belange des mehrheitlich aus konservativen Hardlinern bestehenden Madschles (Parlaments) berücksichtigen. Dennoch verwehrten die Abgeordneten dreien seiner Ministeramtskandidaten, die den Reformern zugerechnet wurden, das Vertrauen. Es war ein deutliches Zeichen: Auch wenn der Präsident, wie er selbst mitgeteilt hatte, mit der Vollmacht des allmächtigen iranischen Staatsoberhauptes Ayatollah Ali Khamenei ausgestattet ist, kann er nicht schalten und walten, wie es ihm beliebt.
Im islamischen Gottesstaat gibt es viele Machtzentren, an deren Spitze aber immer der Führer Khamenei wacht. Neben der Legislative gibt es den mächtigen, von Konservativen besetzten Wächterrat, die Revolutionsgarden und die Justiz – um nur die wichtigsten zu nennen. „Nichts hat sich geändert“, war der Kommentar des Chefs der Judikative, Ayatollah Sadegh Laridschani, zur Wahl des neuen Präsidenten gewesen.
Menschenrechte

Die Brüder Masoud (li.) und Khosro Kordpour: die Menschenrechtsanktivisten wurden im November zu insgesamt neuen Jahren Haft verurteilt
Die Brüder Masoud (li.) und Khosro Kordpour: die Menschenrechtsanktivisten wurden im November zu insgesamt neuen Jahren Haft verurteilt

Kurz vor Rouhanis Reise nach New York, wo er der UN-Vollversammlung seinen auf Deeskalation gerichteten außenpolitischen Kurs mitteilte, ließ Laridschani mit Zustimmung des Staatsoberhauptes sechzehn politische Gefangene frei. Dieser ersten guten Tat folgte jedoch keine zweite. Zwar wurde versprochen, dass weitere politische Gefangene frei gelassen werden sollen – wann, weiß aber niemand.
Menschenrechtler und zahlreiche oppositionelle Webseiten stellen fest: Abgesehen davon, dass die Zahl der Hinrichtungen in den letzten 100 Tagen zugenommen hat, hat sich in Bezug auf Menschenrechte und bürgerliche Freiheiten im Iran nichts geändert. Das Land ist laut Menschrechtsorganisationen nach wie vor eines der größten Gefängnisse für JournalistInnen und InternetaktivistInnen. Politische Parteien und freie Gewerkschaften sind nicht zugelassen und die Integrationsfiguren der „Grünen Bewegung“ Mir Hossein Moussavi und Mehdi Karroubi stehen nach wie vor unter Hausarrest. Genau 100 Tage nach der Übernahme der Regierungsgeschäfte durch Rouhani am 10. November befanden sich einige politische Gefangene, etwa der Rechtsanwalt und Gewinner des Nürnberger Menschrechtspreises Abdolfatah Soltani, im Hungerstreik, um ihre legitime Forderung nach medizinischer Versorgung durchzusetzen.
Wirtschaft
„Unsere Landsleute werden in 100 Tagen die Stabilität der Wirtschaft feiern“, hatte Mohammad Arshadi, Chef des Büros für Bürgerangelegenheit des Präsidenten, kurz nach Rouhanis Vereidigung mitgeteilt.
Der Präsident selbst ließ wissen, dass er unter den besten Wirtschaftsfachkräften des Landes „die fähigsten Mitstreiter“ ausgewählt habe. Sein Team hat zwar durch Maßnahmen wie Erhöhung der Subvention für Weizen kleine Schritte zur Linderung der Not bei den verarmten Schichten unternommen. Doch der Rest ist wie gehabt: steigende Inflation und Arbeitslosigkeit, Erhöhung der Preise für lebensnotwendige Güter wie Wasser, Gas und viele Lebensmittel, aber auch bei Mieten, Strom und Postgebühren – teils bis zu 100 Prozent.
Die Inflationsrate stieg im Oktober nach offiziellen Angaben auf über 40 Prozent -  Foto: 3nasl.com
Die Inflationsrate stieg im Oktober nach offiziellen Angaben auf über 40 Prozent – Foto: 3nasl.com

Um diesen Trend zu stoppen, ist das Land auf die Aufhebung der internationalen Sanktionen – zumindest im Banken- und Ölsektor – und die Freigabe seiner im Ausland eingefrorenen Gelder angewiesen. Deshalb drängt Rouhani auf die Einigung mit dem Westen im Atomkonflikt, um im ersten Schritt die Freigabe von etwa 50 Milliarden US-Dollar iranischer Gelder zu erreichen. Doch die Wirtschaftsmisere ist nicht nur eine Folge der Sanktionen: Mitglieder des neuen Kabinetts haben keine Gelegenheit ausgelassen, um darauf hinzuweisen, dass die Vorgängerregierung unter Mahmoud Ahmadinedschad durch Missmanagement und Vetternwirtschaft wesentlich dazu beigetragen habe. Dazu kommt, so Experten im In- und Ausland, dass die alte Regierung in den vergangenen acht Jahren der Revolutionsgarde (RG) zu immenser Macht in allen Wirtschaftsbereichen verholfen habe. Nimmt man Ahmadinedschad selbst beim Wort, ist die Macht der RG dermaßen gestiegen, dass sie nicht mehr zu kontrollieren sei. Er wies am Ende seiner Amtszeit wiederholt darauf hin, dass „die Brüder“ sogar an illegalen Import- und Exportgeschäften beteiligt seien und dafür eigene Häfen errichtet hätten. Rouhani wird also ohne die Kooperationsbereitschaft der Gardisten, die die volle Unterstützung des Staatsoberhauptes Ayatollah Khamenei genießen, wirtschaftliche Reformen nicht durchsetzen können. Und diese werden für ihre Zusammenarbeit Forderungen stellen. Zumindest im Bereich Außenpolitik sind die Generäle mit den Vorhaben des Präsidenten nicht ganz einverstanden. Sie verteufeln immer noch die USA und Israel und scheuen sich nicht, ihren Einfluss in den regionalen Konflikten, vor allem als Unterstützer des syrischen Regimes, zur Schau zu stellen. Aber auch auf ihre wirtschaftlichen Privilegien werden sie ohne Gegenleistung nicht verzichten.
Kultur und Gesellschaft
Der Präsident hatte unter anderem versprochen, ein Frauenministerium ins Leben zu rufen, die Zensur für Bücher aufzuheben, Kultur und Kulturschaffende zu fördern, das Verbot des Dachverbands der Filmschaffenden „Haus des Kinos“ (Khaneh Cinema) aufzuheben und Pressefreiheit im Rahmen der Verfassung zu garantieren.  Doch außer der Wiedereröffnung des „Khaneh Cinema“ hat Rouhanis Regierung keine augenfälligen Maßnahmen zur Aufhebung der Einschränkungen im kulturellen oder gesellschaftlichen Leben der IranerInnen ergriffen.
Außenpolitik
Rouhani vor der UN-Vollversammlung in New York
Rouhani vor der UN-Vollversammlung in New York

Im Bereich der Außenpolitik hat die Regierung deutliche Zeichen zu einem Kurswechsel von der Eskalation hin zu einer friedlichen Koexistenz mit dem Westen gesetzt. Darin sind sich Freunde und Feinde der Regierung einig. Die neue Regierung möchte den Atomkonflikt friedlich beilegen und ist bereit, dafür auf Teile des ambitionierten Atomprogramms zu verzichten. Auch die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEO) hat dem Iran in ihrem letzten Bericht bescheinigt, er habe in den vergangenen Monaten seine Pläne zur Urananreicherung nicht mehr ausgeweitet.
Rouhani setze bei der Sanierung der Wirtschaft zu sehr auf die Einigung mit dem Westen, sagt der ehemalige Parlamentarier und Universitätsdozent Falahat Pisheh im Gespräch mit dem Internetportal Fararu. Der Hardliner sieht darin einen eklatanten Fehler. Die Islamische Republik solle auf eigene Fähigkeiten und Möglichkeiten und nicht auf Versprechen des Westens bauen. Falahat Pisheh stellt fest: Wenn der Westen sich nicht bald mit dem Iran einigen und die Sanktionen lockern oder aufheben werde, werde Rouhanis Regierung unangenehme Überraschungen erleben.
Eine Plakataktion gegen die USA in Teheran und anderen iranischen Großstädten und die antiamerikanischen Demonstrationen am 4. November zeugen davon, dass die Hardliner immer noch an wichtigen Machthebeln sitzen. Sollte das Staatsoberhaupt Khamenei ihnen grünes Licht geben, werden sie in der Lage sein, die Pläne der Regierung zu stoppen. Rouhani genießt aber Khameneis Unterstützung – doch wie lange noch, ist ungewiss.
  Farhad Payar