Protestbewegung als Teilzeitbeschäftigung
Kurz vor dem Jahrestag der umstrittenen Wahlen von 2009 am 12. Juni werden die Differenzen innerhalb der Protestbewegung erneut sichtbar. Nikahang Kowsar vertritt jene Meinung, die keine Hoffnungen mehr auf langsame Reformen innerhalb des Systems der Islamischen Republik setzt. Vor dem Hintergrund des „arabischen Frühlings“ bewertet er im Vergleich die momentane Lage der Opposition in Iran.
Um es gleich vorweg zu nehmen: Ich werde niemanden zu Straßenprotesten oder zur Teilnahme an Wahlen ermuntern. Auch niemanden zum Wahlboykott oder zum Zu-Hause-Bleiben aufrufen. Ich bin weder ein Aktivist noch ein Politiker – nur ein Beobachter. Ein Beobachter, der einigermaßen Vergleiche ziehen kann und das Glück hatte, sich mit politischen und sozialen Aktivisten aus Ägypten und anderen Ländern, die ihre Diktatoren losgeworden sind, auszutauschen.
Die Erfahrungen dieser sozialen Netzwerke und die Aktivitäten ihrer Unterorganisationen zeigen deutlich, dass die iranischen Aktivisten es nicht vermochten, ihre Netzwerke einheitlich zusammenzuführen. Der Grund kann die fehlende Erfahrung und Schulung oder mangelnde Erforschung der Erfahrungen anderer sein.
Viele ägyptische Aktivisten aber haben aus den Erfahrungen im (ehemaligen) Jugoslawien gelernt, etwa um zu wissen, wie sie die Menschen trotz Abschaltung des Internets und anderer Kommunikationsmittel dennoch zum Tahrir-Platz ziehen können. Sie haben den Wert des Zusammenschlusses verschiedener Gesellschaftsschichten erfasst. Sie haben verstanden, dass eine große Bewegung ohne die Teilnahme der unteren Schichten und der Arbeiter nicht erfolgreich sein kann.
Vor wenigen Monaten, als die Verhaftung der Führungsköpfe der Grünen Bewegung noch ein Gerücht war, skandierten unsere „Onlinefreunde“: „Bei Mussawis Verhaftung wird sich ganz Iran erheben“. Nun sind schon über 100 Tage seit der Verhaftung von Mir Hossein Mussawi und Mehdi Karroubi vergangen. Wenn das, was wir bislang gesehen haben, die Erhebung ist, dann brauchen wir keine Angst vor dem Jüngsten Gericht zu haben.
Mit anderen Worten: die Online-Drohungen sind außerhalb des „Webs“ zu keinem Zeitpunkt umgesetzt worden. Ich spreche nicht davon, dass sich jemand hätte in Lebensgefahr bringen sollen, damit die Führer der Bewegung freigelassen werden. Keineswegs. Aber wenn Parolen gerufen werden, die in der wirklichen Welt keinen Widerhall finden, überlassen die Sprecher das Feld faktisch ihren Gegnern; ein „Bluff“ mit Verfallsdatum.
Offenbar kannten die Aktivisten in Ägypten die Bedeutung der Zeit; sie ahnten, dass das Mubarak-Regime langsam die verlorenen Posten wieder zurückerobern würde, wenn zu lange Lücken zwischen den einzelnen Protestaktionen liegen. Ebenso in Tunesien.
Bis vor Kurzem war eine Aktivistengruppe der Grünen Bewegung der Meinung, dass die iranischen Verhältnisse nicht mit denen in Ägypten vergleichbar seien, weil es dort keine „Revolutionsgarden“ gebe… Wie ist es denn in Syrien? Ist das Vorgehen der Assad-Anhänger schwächer als das, was wir in den Städten Irans gesehen haben? Was bewirkt, dass die Menschen in Syrien keine Angst haben?
Vielleicht sollten wir statt alles zu rechtfertigen, was die Protestbewegung der Iraner zu einer Teilzeitbeschäftigung gemacht hat, die Probleme ernsthaft besprechen. Nicht erneut falsch verstehen: Mein Ziel mit der Erörterung des Problems ist nicht, jemanden zur Gewalt aufzurufen oder in Lebensgefahr zu bringen. Vielmehr geht es mir darum, in dem begrenzten Raum, der uns bleibt, die Mängel besser zu lokalisieren.
Die wichtigste Frage, die sich stellt, ist, warum es der Führung der Grünen Bewegung nicht gelungen ist, die anderen gesellschaftlichen Schichten mit der aktiven Mittelschicht zu verschmelzen? Warum erkennen große Teile der Arbeiter die Führer der Grünen Bewegung nicht als ihre Fürsprecher an?
Arbeiter
In einem Interview mit Khodnewis sagte Dr. Kaweh Ehssani (Politikwissenschaftler an der Universität Chicago), er sei zwar nicht der Ansicht, dass Intellektuelle Sprecher der Arbeiterklasse sein sollten. Aber die Arbeitervereinigungen, die während der Reform-Ära zumindest entstanden sind und den Reformern nahestanden, also Nichtregierungsinstanzen, die die iranischen Arbeiter vertraten, wurden von den Reformern nicht unterstützt.
Die Grüne Bewegung kann sich mit der arbeitenden Bevölkerung verbinden, wenn sie sich ernsthaft um ihre Anliegen bemüht, so Ehssani weiter. „Sie muss ihre Marktorientierung in Frage stellen und akzeptieren, dass die iranische Gesellschaft, wie überall auf der Welt, eine Klassengesellschaft ist. Und diese Schichten sind erst dann bereit, politische Opfer zu bringen, wenn sie die eigenen Interessen vertreten sehen.“ Die Frage, warum die Reformer keinen Erfolg bei der Integration der unteren Schichten hatten, bleibt offen.
Einheitliche Parolen
Ein Vergleich zwischen den Ereignissen in der Region und dem, was in Iran geschah, zeigt, dass der Unterschied zwischen den Parolen der Bevölkerung und denen der Reformer zu Differenzen und Hoffnungslosigkeit geführt hat. Aktivisten der Grünen Bewegung sehen diese Kritik als Spaltung an; sie appellieren, die Harmonie nicht mit Angriffen auf die „Herrschaft des Rechtsgelehrten“ zu zerstören.
Wenn sich aber die iranische Freiheitsbewegung auf der Basis von Menschenrechten gestaltet, können weder die „Verfassung der Islamischen Republik“ noch die „Ideale von Ayatollah Khomeini“ Triebfeder der Einheit sein. Wie kann damit ein Konsens hergestellt werden, wenn sie der Grund für Menschenrechtsverletzung, Diskriminierung und Unterdrückung der Bevölkerung sind? Auch diese Fragen müssen noch beantwortet werden.
In Ägypten und Tunesien oder Syrien und Jemen gab es eine einheitliche Parole: „Sturz des Systems“. Niemand hat dort den Protestträgern vorgeschrieben, von „systemumstürzlerischen“ Parolen abzusehen. Niemand hat die Pläne vor den Demonstrationen „verraten“, damit die bewaffneten Einheiten sie erwarten konnten. Ihre sozialen Netzwerke wurden im virtuellen Raum nicht gestoppt. Sie waren nicht Gefangene der Meinung einer bestimmten Gruppe. Die jungen Anführer waren nicht Verfechter der „Erhaltung des Systems“ um jeden Preis.
Kein Zweifel: die Iraner unterscheiden sich von den Ägyptern. Man kann die Situation der beiden Länder nicht vergleichen. Aber kann man ihre Erfahrungen nutzen? Müssen Iraner das Rad neu erfinden?
Störfaktore der Bewegung
Investition in Personen, die die Entwicklung der Bewegung wegen Sippen- oder Parteiinteressen behindern, kann ein Fehler sein. Wenn z.B. Haschemi Rafsandjani die Proteste am 25 Bahman (14. Februar) ablehnt und sie kurz vor den Expertenratswahlen als „unerlaubte Handlung“ bezeichnet, stellt sich die Frage, warum einige, auch in den Medien (sowohl im wie außerhalb des Landes), bestrebt sind, sein Vorgehen gegen die Bewegung zu vertuschen.
Oder wenn wir die Reden von Mohammad Khatami analysieren: wie oft begegnen wir seinem Protest gegen „Wahlfälschung“? Wie oft hat er öffentlich von der „Grünen Bewegung“ gesprochen? Hat er an der Beerdigungszeremonie eines ehemaligen Parlamentsabgeordneten (Ezatollah Sahabi) teilgenommen? Wie oft hat er (den Gewerkschaftsführer) Mansour Ossanlou besucht? Wie oft mussten wir seine letzte „Versöhnungsrede“ lesen, um einen günstigen Fazit herauszulesen?
Fortsetzung folgt.